Murathan Mungan: Tschador (Blumenbar)

Ein Roman über die Rückkehr und der Entfremdung von seiner Vergangenheit hat der türkische Autor Murathan Mungan mit seinem Roman Tschador geschrieben, der bei Blumenbar erschienen ist.

Ein junger Mann namens Akbhar kehrt nach Jahren des Exils in sein Heimatland zurück. Ängstlich, aber auch von Hoffnung getrieben, begibt er sich auf die Suche nach den Menschen, die er in seinem Herzen aufbewahrt hat: seine Mutter, seine Schwester, seine Jugendliebe. Ein neues Regime ist an der Macht, das Land sichtbar vom Krieg zerstört. Akbhar irrt von Tür zu Tür, von Stadt zu Stadt. Am meisten verunsichert ihn der allgegenwärtige Anblick verschleierter Frauen: Der Tschador wird zu einem Symbol der Entfremdung – und entwickelt doch eine magische Anziehungskraft.

Murathan Mungan, 1955 in Istanbul geboren, wuchs in Mardin im Osten der Türkei auf. Heute lebt er in Istanbul, wo er wie ein Popstar verehrt wird. Sein Werk umfasst Theaterstücke, Essays, Gedichte, Erzählungen und Romane. Mungan bekennt sich offen dazu, schwul zu sein.

Tschador von Murathan Mungan ist bei Blumenbar erschienen.
(JK 11/10/08)


Interview mit Murathan Mungan


B@T: Sie werden zu hause wie ein Popstar verehrt, Sie pflegen eine gewisse Exzentrik und Sie bezeichnen sich gelegentlich auch schon mal als Gesamtkunstwerk. Wie stellen wir uns das Gesamtkunstwerk Murathan Mungan vor?

M.M.: Ich möchte vorausschicken, dass ich an erster Stelle ein Schriftsteller bin. Aber wenn man sich auf den Weg zum Schreiben macht, dann ist es unumgänglich, dass man auf diesem Weg bestimmte Bezeichnungen angehaftet bekommt. Aber kein Schriftsteller macht sich auf diesen Weg, um am Ende ein Star zu sein. Was ich damals gesagt habe, was dieses Kunstwerk betrifft, war, dass ein Schriftsteller, ein Literat, auch das Leben als ein Gesamtkunstwerk begreifen und erleben muss. Ich glaube, das wurde dann irgendwie falsch verstanden.

B@T: Sie leben in Istanbuls hipstem Stadtteil Beyoğlu, wo das Leben tobt und was sicherlich den modernsten Teil der gesamten Türkei darstellt. Sie selbst kommen jedoch aus dem Südosten der Türkei, aus der Nähe von Mardin an der syrischen Grenze. Sie sind arabisch-kurdischer Abstammung und in dieser südöstlichen Region finden wir ein großes Gemisch: Türken, Kurden, Muslime, Christen, Jesiden usw. Wie hat Sie diese Vielsprachigkeit und das Multiethnische des Südostens beeinflusst, auch in Ihrer Literatur?

M.M.: Ich würde das als die mesopotamische Kultur bezeichnen. Diese Region ist tatsächlich ein Fleck der Erde, wo verschiedene Kulturen, verschiedene Ethnizitäten und verschiedene Sprachen zusammenleben. In einer solchen Atmosphäre bin ich groß geworden, und natürlich hat das mein Fühlen und Denken sehr stark beeinflusst. Dank dieser Kultur und ausgehend von ihr habe ich gelernt und erfahren, wie reich und wie farbenfroh die Welt ist und dank dieses Reichtums habe ich auch die pluralistische Demokratie kennen gelernt.

B@T: Sie haben den vielfältigen Reichtum des Orientalischen angesprochen. Von Murathan Mungan gibt es zwei Bücher auf Deutsch: eins davon ist Palast des Ostens, im Unionsverlag erschienen, und darin deuten Sie orientalische Legenden, den Reichtum dieser Mythologie neu und zwar in einer ganz eigenen poetischen Sprache. Und dann gibt es einen neuen Roman von Ihnen, der heißt Tschador, im Blumenbar Verlag erschienen. Wir wollen über den neuen Roman sprechen: Da geht es um die Rückkehr eines jungen Mannes in sein Heimatland. Dieses Heimatland wird nicht näher bezeichnet, er war jahrelang im Exil. Das Land ist vom Krieg zerstört und ein neues Regime ist an der Macht, die Soldaten des Islam. Der Held Akhbar sucht nach den Frauen die er liebt, nach seiner Mutter, seinen Schwestern und seiner damaligen Freundin. Die Atmosphäre, die Stimmung in Tschador ist eine beängstigende, fast archaische Endzeitstimmung. Können Sie uns was darüber erzählen was das für ein Land ist, in das Akhbar zurückkommt, und welche Atmosphäre dort herrscht?

M.M.: Die Atmosphäre des Landes ist, wie Sie beschrieben haben. Mir ging es darum, ein mögliches Land zu entwerfen, ein mögliches Land nach einer islamischen Revolution. Aber dieses Buch kann und sollte man auch als eine Geschichte der Rückkehr lesen. Und in diesem Buch geht es nicht nur um die Religion und um dieses bestimmte Land. Sondern mir ging es darum, was der einzelne Mensch in einem Land, in einem System erleben muss, das Druck auf die Menschen ausübt. Das kann nationalistischer, fanatischer Druck sein. Mir ging es darum, wie fühlt sich ein Mensch, der eingeengt, wie in einem Käfig eingesperrt ist und um den Widerspruch zwischen der Gesellschaft und dem einzelnen.

B@T: Dieser Held Akhbar, der in dieses zerstörte Land kommt, wo die Menschen voller Angst leben, wie fühlt er sich in diesem Land, das ja einmal seine Heimat gewesen ist und das in den gleichen Trümmern liegt wie heute Kabul oder der Irak?

M.M.: Es ist nicht wirklich klar, ob z.B. das Schloss von Kafka wirklich in Amerika spielt oder nicht. Und wenn wir Kafkas Buch jetzt lesen, dann können wir dieses Schloss auch nicht verorten. Ich habe eine ähnliche Undefiniertheit in meinem Buch Tschador erzeugt, um auch eine weltumfassendere Geschichte erzählen zu können. Das ist eine Geschichte der Rückkehr nach hause. Aber auch die Geschichte einer Reise eines Menschen in sich selbst, eine Geschichte einer Reise zu den Erinnerungen. Es ist eine Geschichte von sich immer höher aufziehenden Mauern zwischen einem selbst und der eigenen Vergangenheit. Und daher ist Tschador ein Text der sich von eher poetischen Quellen nähert. Mir ist es darum gegangen, eine Geschichte des Verlorengehens und eine Geschichte der Suche miteinander zu verknüpfen. Ich glaube, das ist es, was die Leser so interessiert. Denn die Menschen kehren überall in der Welt eines Tages nach Hause zurück. Aber da wohin sie zurückkehren, ist nicht mehr ihr zuhause. Und der, der zurückkehrt, ist nicht mehr er oder sie selbst.

B@T: Akhbar ist ja auch ein Fremder in seinem Land geworden, er sucht verzweifelt nach seiner Mutter, nach seiner Schwester und vor allen Dingen nach der Frau, die er geliebt hat, bevor er das Land verlassen musste. Jetzt begegnen ihm aber überall Frauen nicht nur im Tschador, der schwarzen Verschleierung, sondern die meisten Frauen rennen in Burkas herum, das ist das Ganzkörperstoffzelt mit einem Sichtgitter im Gesicht. Das besondere an dem Roman ist nicht nur die Geschichte, die Murathan Mungan erzählt sondern die Poesie und die Treffsicherheit, mit der er das beschreibt. So steht dort, wenn es um die Frauen geht: „Die Stadt war wie ein Gespenst, das den eigenen Leichnam hinter sich her schleift, die Grausamkeit war zum Puls des Lebens geworden. Die wenigen Frauen die noch unterwegs waren, mussten sich auf der Straße wie Flecken fühlen, die es sofort aufzuwischen galt, denn sie hasteten dahin und versuchten in der Luft keine Spuren zu hinterlassen. Während sich die Frauen Jahrhunderte lang geschmückt hatten, um gesehen zu werden, versuchten sie nun vielmehr sich unsichtbar zu machen. Murathan, was symbolisiert bei Ihnen der Tschador und, ein Schritt weiter, die Burka? Was bedeutet das für eine Gesellschaft, wenn die eine Hälfte dieser Gesellschaft einfach ausgeblendet wird?

M.M.: Ich fange an einem anderen Punkt an. Für mich ist der Grad der Freiheit einer Gesellschaft zu messen an dem, inwiefern die Frauen in dieser Gesellschaft frei sind. Wenn die Frauen aus dem sozialen Leben weggewischt sind, wenn sie von den Straßen verschwunden sind, dann ist für mich auch die Natur dieser Gesellschaft zerstört. Das zum einen. In Tschador mache ich eine Aussage: Wenn das Sich Verhüllen zu einer Moral gemacht wird, zu einem Zwang, dann werden sich die Frauen so weit verhüllen, bis es beim Leichentuch endet. Und darüber geht es auch in meinem Buch: um das Sehen und das Gesehen werden. Das heißt das Sichtbarsein und die Art, wie jemand sieht und gesehen wird, ist das Hauptthema in diesem Buch und die Verhüllung ist eine Metapher. Wir wissen, dass an vielen Orten in dieser Welt die Frauen, auch wenn sie sich nicht verhüllen, für die Welt der Männer unsichtbar bleiben. Tschador ist ein Zeichen, ein islamisches Zeichen, für eine Politik, die sich über die Körper der Frauen definiert. Das ist auch eine Politik, die Frauen zu der Anderen zu machen und die Frauen einzusperren. Und dass Akhbar versucht, aus einer Burka heraus, aus diesem Sichtfenster heraus, die Welt neu zu sehen, eröffnet ihm die Wege einer neuen Reise.

B@T: Auf seiner Suche und seiner Verzweiflung, dass es durch diese Burkas fast unmöglich geworden ist, die Frauen, die er sucht überhaupt auf den Straßen zu identifizieren, zieht sich Akhbar selbst gegen Ende des Romans eine Burka an. Wie kommt ein islamischer Mann auf die Idee, eine Burka anzuziehen? Was steckt dahinter und welche Erfahrung macht er, wenn er plötzlich derjenige ist, der durch ein winziges Sichtgitter auf die Welt schaut?

M.M.: Ich glaube am Ende des Romans wird sehr deutlich, dass das Land, um das es geht, ein undefiniertes Land ist.Es ist ein mögliches Land. Wenn ich gewollt hätte, dass es um ein bestimmtes Land geht, und wenn ich gewollt hätte, dass das Buch das Verhüllen, das Kopftuch der Frauen zum Thema macht, dann hätte ich dieses Land in meinem Buch auch ganz konkret benannt. Ich wollte, dass über diese Themen auf einer anderen Ebene gesprochen wird, und dass jedes Land, in dem ein System der Unterdrückung herrscht, ein mögliches Modell für das Land in meinem Buch Tschador ist. Es geht nicht nur um die gesellschaftlichen Aspekte in dieser Geschichte sondern diese Geschichte wird durchzogen von psychologischen Äderchen. Ich möchte jetzt mit Blick auf diejenigen, die das Buch noch nicht gelesen haben, das Ende dieses Buches nicht verraten. Ich möchte nur so viel verraten, dass es wahrscheinlich angebracht gewesen wäre, am Ende der Geschichte auch ein bisschen an Freud und Jung zu denken. Und ich möchte darauf hinweisen, dass eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Akhbar und mir besteht, denn Akhbar zieht sich eine Burka über, aber genauso wie er ziehe ich mich, wenn ich dieses Buch schreibe, Akhbar über, das heißt andere Menschen, andere Empfindungen, andere Persönlichkeiten. Ein Schriftsteller erzählt nicht nur über sich selbst und über sein Leben. Auch nicht nur über die Menschen, die ihm ähnlich sind. Schreiben, Literatur schreiben, heißt, den anderen zu verstehen. Das ist die Substanz dieser Kunst, sich in einen anderen hineinversetzen zu können und deswegen kennt mein Stift viele unterschiedliche Akhbars und viele unterschiedliche Arten von Burkas.

B@T: Als am Anfang des Jahres 2007 der armenischstämmige Journalist Ram Dink auf offener Straße ermordet wurde, haben Sie einen sehr engagierten Artikel geschrieben als Stellungnahme zu diesem Mord. In diesem Artikel haben Sie betont, dass es viele Völker in der Türkei gibt: es gibt Kurden und Armenier und es wird Zeit darüber zu sprechen. Was war der Grundgedanke des Artikels, den Sie im letzen Jahr geschrieben haben?

M.M.: Was ich damals gedacht und empfunden habe, als ich diesen Artikel geschrieben habe, kann man, glaube ich, viel besser nachvollziehen, wenn man diesen Artikel selber liest. Ich gehe davon aus, dass man über Internet diesen Artikel immer noch lesen kann. Mein persönliches Wort dazu: Ich war zutiefst erschüttert, als Ram Dink, den ich gekannt und sehr gemocht habe, ermordet wurde. Und es ist eine Schande für mein Land, dass dieser Mord immer noch nicht aufgeklärt ist und dass die Ermittlungen zu diesem Mord immer noch nicht so umfangreich geführt werden, wie sie es verdient hätten. Tatsächlich ist die Türkei ein Land, wo viele Sprachen, viele Religionen zusammen leben. Es ist ein Land, das über sehr viele reiche Quellen verfügt. Und ich hoffe sehr, dass die Türkei in naher Zukunft versteht, diese Quellen anzunehmen und die Probleme lösen kann, die noch in diesem Land existieren um den Platz einzunehmen, den die Türkei einnehmen kann und einzunehmen verdient. Nachdem Ram Dink ermordet wurde, sind hunderttausende von Menschen auf die Straßen gegangen und haben gegen diesen Mord protestiert. Das sind Menschen die gegen die antidemokratische Politik in der Türkei protestiert haben und protestieren. Wenn wir über die Türkei sprechen, dürfen wir nicht vergessen, dass es diese demokratische Tradition in der Türkei auch gibt. Und diese Menschen und diese Tradition sind es, die die Türkei verändern werden. Aber wir müssen uns auch vergegenwärtigen, dass wir in ein Zeitalter eintreten, dass ein Mord nicht nur das Land betrifft, in dem er stattfand, sondern die ganze Welt und dass die Probleme eines Landes inzwischen zu globalen Problemen geworden sind.

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