In seinem neuen Roman Lazarus, der bei Knaus erschienen ist, folgt Aleksandar Hemon den Spuren eines ungelösten historischen Mordfalls. Dabei entdeckt sein Held Parallelen zwischen gestern und heute, begegnet einem verschollenen Freund und macht sich auf die Suche nach den eigenen Wurzeln in einem fernen Land. Eine lakonische, höchst unterhaltsame und rasant erzählte Geschichte über politische Hysterie, Heimatlosigkeit und geplatzte Träume. Und die Geschichte einer Männerfreundschaft, die ihresgleichen sucht.
Durch Zufall stößt der Schriftsteller Vladimir Brik in Chicago auf die Geschichte von Lazarus Averbuch, der 1908 während der Anarchistenunruhen erschossen wurde. Brik ist von Lazarus’ Schicksal tief berührt und beschließt, nach Osteuropa in die Heimat des jungen Einwanderers zu reisen. Kurz vor seinem Aufbruch läuft ihm Rora über den Weg, ein Jugendfreund aus Sarajevo – und Brik weiß, dass er den idealen Reisegefährten gefunden hat. Schon damals in Sarajevo war Rora das, wovon Jungs wie Brik nur zu träumen wagten: cool, charmant, verwegen. Brik und Rora machen sich auf, die Spuren des fremden Toten zu suchen. Doch im Grunde ihres Herzens wissen sie, dass diese Reise von der Neuen in die Alte Welt eine Reise zu den eigenen Wurzeln ist.
Aleksandar Hemon wurde 1964 als Kind einer serbischen Mutter und eines bosnischen Vaters in Sarajevo geboren. Zur Zeit der Donaumonarchie kam Hemons Großvater Teodor aus der Ukraine nach Bosnien. Als Aleksandar Hemon sich 1992 im Rahmen eines Kulturaustauschs in den USA aufhielt und vom Beginn der Belagerung seiner Heimatstadt erfuhr, beschloss er, im Exil zu bleiben. Seit 1995 schreibt er in englischer Sprache und veröffentlicht regelmäßig unter anderem in The New Yorker, Granta und The Paris Review.
Interview mit Aleksandar Hemon
B@T: Der Held Lazarus in Ihrer Geschichte beruht auf einer tatsächlich gelebten Person, der Berühmtheit erlangte durch die Umstände seines Todes in Chicago. Können Sie uns ein wenig über ihn erzählen?
A.H.: Er war ein Überlebender des Kishinew Pogroms im Jahr 1903. Er kam nach Chicago einige Monate vor seinem Tod, weil seine Schwester Olga bereits dort lebte. Er lebte in Chicagos Westside, dem jüdischen Ghetto. Mehrmals suchte er den Chicagoer Polizeichef auf, bis er schließlich im Chicagoer Polizeipräsidium erschossen wurde. Das ist die zentrale Handlung in meinem Buch.
B@T: Wie sind Sie auf seine Geschichte gestoßen?
A.H.: Ein Freund gab mir ein Buch über die „Lazarus-Affäre“, eine knappe geradlinige Geschichtsarbeit, in der die Umstände und Hintergründe des Lazarusmordes beschrieben waren. Ich habe dann das Thema aufgegriffen und mir die Freiheit genommen sehr viele Änderungen und neue Gedanken einzubringen. Ich glaube an eine Arbeitsteilung zwischen historische Fakten und dichterische Freiheit. So habe ich über Dinge geschrieben, wie sie vielleicht passiert sind oder hätten passiert sein können oder über Dinge, wie ich sie mir gewünscht habe, dass sie so passiert sind. Das spannendste und aber auch Erschütterndste in dem kleinen Buch waren für mich jedoch die Photos des toten Lazarus und die Zurschaustellung der Fotos in der Öffentlichkeit – der Gegensatz von dem der Macht hat und dem Machtlosen. Das brachte mich letztendlich dazu, ein Buch darüber zu schreiben.
B@T: Die Geschichte des Lazarus wird im Buch ein Jahrhundert später von Vladimir Brik erzählt, ein bosnisch-amerikanischer Schriftsteller. Empfindet Brik eine Art Verwandschaft für Lazarus?
A.H.: Ja, ganz sicher. Allerdings trachte heute keiner nach Briks Leben. Er lebt gemütlich in den USA wenn auch nicht glücklich. Das Buch behandelt in gewisser Weise aber auch über den Prozess selbst über Lazarus zu schreiben. Brik startet von einem bestimmten Punkt in seinem Leben und begibt sich auf die Reise nach Osteuropa. Die Annahme ist, dass Brik auf seiner Osteuropareise etwas gelernt hat, dass er von seiner bisherigen Position im Leben abgerückt ist. Und dann ist er imstande über Lazarus zu schreiben. Einerseits projiziert er sich selber in Lazarus Situation und andererseits weil er die Schwäche der Welt erfahren hat. Seine Vorstellungskraft ermöglicht es ihm nun über sich selbst hinaus zu gehen.
B@T: Welche Verbindung ziehen Sie von Lazarus zu aktuellen Begebenheiten? Er hat Polizei- Willkür und -Brutalität erfahren, was auch heute ein aktuelles Thema ist.
A.H.: Die Ausländerfeindlichkeit und die Hysterie gegenüber den Einwanderern, die ich in den Zeitungen der damaligen Zeit fand, beschönigten nichts. Und das Thema zieht sich wie ein roter Faden durch die amerikanische Geschichte. Auch heute findet man auf der Titelseite der New York Times Berichte von zu Tode gekommenen Einwanderern in Abschiebehaft. Was auffällt, wenn man sich mit dem Tod von Einwanderern beschäftigt, dann ist die einzig verfügbare Quelle über die Todesumstände, die amtliche Verlautbarung. Und so gibt e viele Parallelen zwischen Lazarus und heute weil es in der Sache selber eine Kontinuität gibt. Ich glaube, dass es dieser Phobie gegenüber Einwanderern bedarf, um die eigene amerikanische Identität zu bilden und zu erhalten. Für manche Menschen ist das der einzige Garant. Lazarus war ein fruchtbarer Boden für diese Gefühle und es gibt hach wie vor eine riesig große Menge an Einwandern heute.
B@T: Ist das eine amerikanische Eigenart oder findet man das überall dort, wo sich eine Nation bildet?
A.H.: Ich glaube, das gibt es überall. Nun lebe ich eben in den USA und dies ist eine amerikanische Geschichte. Das Thema Einwanderung oder besser Verschleppung, Entwurzelung ist sehr brisant. Die Welt teilt sich auf in solche, die irgendwohin gehen wollen und solche, die diese nicht dahin kommen lassen wollen. Als Schriftsteller interessiert mich der Mensch, der kein Zuhause oder kein Gefühl von Zuhause hat. Die Welt verändert sich und gerade bei diesem Thema wird diese Veränderung der Welt besonders sichtbar. Ausländerfeindlichkeit, Fremdenhass sind transnational, sie zeigen immer wieder die gleichen Symptome. In Amerika sieht es etwas anders aus als in Europa. In den USA hat sich das Nationalbewusstsein nie vom Blut abgeleitet. Anders als in Deutschland oder Frankreich, wo sich für die Türken oder Araber der dritten Generation die Frage stellt, ob sie deutsch oder französisch sind. In den USA bist Du Amerikaner sobald Du den Test bestanden hast und das stellt niemand dann mehr in Frage.
B@T: Im Buch reist der Autor Vladimir Brik durch die Ukraine und dann nach Sarajewo und bringt den Fotograf Rora mit in die USA. Hatten Sie auf Ihrer Reise auch eine Begleitung?
A.H.: Ja, mein bester Freund Velibor Božović hat mich begleitet. Er ist Fotograf. Wir kennen uns seit mehr als 25 Jahren, haben viele Sachen zusammen gemacht, unter anderem zusammen in einer Band gespielt. Er war in Sarajewo zur Zeit der Belagerung. Er ist dann nach Kanada ausgewandert. Als wir zusammen nach Osteuropa reisten, hatte ich bereits die Skizze des Romans fertig, die die Präsenz von Rora erforderte. Das Buch ist nicht die Beschreibung unserer Reise nach Osteuropa, obwohl das natürlich automatisch in den Roman hineinspielt. Für uns war jedoch die Aufgabe auf der Reise zu erforschen und zu spekulieren, was Rora sehen würde und dies zu beschreiben. Was würde Rora erleben und was würde Brik daraus tun. Wir wollten unbedingt nach Moldawien und Kishinew, das heutige Chisinau, mit eigenen Augen kennen lernen und Erfahrungen auf einer Reise durch Osteuropa sammeln.
B@T: Und wie war das in Kishinew, gab es noch Zeugnisse aus der Vergangenheit?
A.H.: Es gibt ein Museum zur jüdischen Gemeinde mit einem Raum, der das Pogrom darstellt. Wir haben Menschen gesprochen und waren auch auf dem jüdischen Friedhof, der von den Sowjets geschändet wurde. Es gibt noch eine kleine erhaltene Ecke, dort haben wir Fotos gemacht. Es ist ein beeindruckender Ort. Es gibt viele demolierte Grabsteine, bei einigen sind jedoch die Gravuren noch erhalten, mit Inschriften in Russisch und Rumänisch, die von der Kraft und dem Durchhaltewillen zeugen. Es war eine nachhaltige Erfahrung, ich habe mich bisher noch nie so nahe dem Tod gefühlt wie dort.
B@T: Sie beschreiben eine jüdische Geschichte vor dem Holocaust in Europa, was hat für Sie als nichtjüdischer europäischer Schriftsteller der Holocaust für eine Bedeutung?
A.H.: Vor dem Bürgerkrieg in Bosnien habe ich viel über den Holocaust gelesen, denn der Holocaust ist als tragisches Ereignis allgegenwärtig in Europa. Als dann der Bürgerkrieg über Bosnien hereinbrach, gab es in Bosnien plötzlich Völkermord. Der Völkermord in Bosnien ist zwar in Größe und Umfang nicht mit dem Holocaust zu vergleichen, aber es wurden die gleichen Mechanismen und Technologien angewandt. Von der Propaganda über die Entmenschlichung der Opfer und der Verschleierung der Grausamkeiten. Für mich ist da die zentrale Frage, wie man damit umgehen soll. Aus meiner Familie ist niemand im Holocaust oder im Bosnischen Bürgerkrieg umgekommen. Wie geht man also damit um? Kannst Du sagen, dass Du davon nicht betroffen bist. Wie berührt es Dich? Für mich ist klar, dass wenn Du in Europa lebst, insbesondere in Osteuropa, dann bist Du zwangsläufig vom Holocaust berührt. Der gesamte Komplex berührt die Frage der Bedeutung und Ausmaß von Verlust.
B@T: In all Ihren drei Romanen geht es um Migrantenschicksale aus Bosnien. Ist es nicht emotional erschöpfend für Sie, ihre eigenes Schicksal in ihren Projekten aufleben zu lassen?
A.H.: Nein, ganz und gar nicht. Schreiben ist für mich die Auseinandersetzung auf der persönlichen Ebene mit der Welt und Absorbierung dessen, was um mich herum passiert. Ich projiziere meine Gedanken in die Figuren meiner Bücher. Dadurch bleiben sie erhalten. Ich würde sie sonst wahrscheinlich nicht mehr über die Zeit erinnern.
B@T: Was kommt als nächstes von Ihnen?
A.H.: Ich habe zwei Bücher gleichzeitig fertig geschrieben. Nächstes Jahr wird ein Buch mit Kurzgeschichten erscheinen. Als ich den Lazarus-Roman geschrieben habe, habe ich gleichzeitig Kurzgeschichten geschrieben. Aus vielen Gründen musste ich das gleichzeitig tun. Es gab mir Abstand zur Lazarus-Geschichte und gleichzeitig konnte ich sie nicht in der Lazarus-Geschichte unterbringen. In gewisser Weise ergänzen sich beide Bücher.
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