Der
türkische Schriftsteller Yaşar Kemal ist am 28. Februar in Istanbul im Alter
von 91 Jahren nach längerer schwerer Krankheit verstorben. Er widmete sein Schaffen
den ländlichen Regionen der Türkei. Zur Begabung, diese Welt in großartigen
Schilderungen zu fassen, traten Mut und Engagement in politischen Fragen.
Yaşar
Kemal hat unzählige bemerkenswerte Romane geschrieben, die sich nahtlos
einreihen neben Werken von Autoren wie Ernest Hemingway, Nagib Machfus oder
Nadine Gordimer. Es sind große und großartige Schilderungen seines Landes, vor
allem des entlegeneren inneren Anatolien, seiner Landschaft und seiner
Menschen. Yaşar Kemal, selbst in sehr einfachen, um nicht zu sagen
ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, beschrieb eine Türkei, wie sie nicht in
den Geschichtsbüchern steht. Jene Türkei, in der um die Mitte des 20.
Jahrhunderts und teilweise noch bis weit in unsere Tage hinein in den Weiten
Anatoliens mächtige Grundherren – die Aghas – das Sagen hatten. Jene Türkei, in
der die Menschen in den ferneren Regionen sich mühsam ihr tägliches Brot im
wahrsten Wortsinn „erackern“ mussten – um oft nicht einmal dieses zu haben. Es
war jene Türkei, in der sein Roman Memed
mein Falke spielt, die Geschichte eines Bauernjungen, der aus Liebe zu
einem Mädchen auf den Agha schießt und deshalb als Gesetzloser in die Berge
fliehen muss. Ein Motiv wie aus Robin
Hood. Und zugleich ein immer wiederkehrendes Sujet der klassischen
türkischen Volksdichtung, die nur dank Autoren wie Kemal überhaupt in die
Gegenwart überliefert wurde.
Yaşar
Kemal wurde 1923 in einem Dorf in Südostanatolien geboren. Sein Vater gehörte
ursprünglich als dorthin umgesiedelter Grundbesitzer nicht zu den Allerärmsten.
Doch er wurde schon früh bei einer Fehde vor den Augen des Sohnes ermordet. Ein
Ereignis, das dem damals Fünfjährigen die Stimme raubte. Nur mühsam konnte er
sie sich durch das Singen alter Balladen – eine Quelle für seine späteren Werke
– wieder aneignen. Doch die Familie verarmte. Kemal verließ früh die Schule und
musste sich durchs Leben schlagen: als Wasserträger, Baumwollpflücker,
Hilfsarbeiter und endlich mit einer uralten, klappernden Schreibmaschine als
Briefeschreiber für viele des Schreibens unkundige Landsleute. Doch diese Wege durchs Land waren für ihn wie Recherchen. Da er daneben außergewöhnlich viel von den Großen jener und früherer Zeiten las – von
Balzac, Stendhal, Gorki oder Steinbeck –, drängte es ihn bald, selbst zu
schreiben. Seit den vierziger Jahren arbeitete er als Reporter für verschiedene
Zeitschriften und schließlich für die große Tageszeitung Cumhuriyet. Nicht
von ungefähr sind seine Bücher oft auch gewaltige Reportagen.
Im letzten Segment seines Schaffens allerdings wandte sich der Autor
einer Art utopischem Entwurf zu. Die 2002 abgeschlossene Insel-Trilogie, bestehend aus den Bänden Die Ameiseninsel, Der Sturm
der Gazellen und Die Hähne des
Morgengrauens, versammelt auf einem kleinen Eiland Flüchtlinge von allen
Fronten der Konflikte, welche die Türkei im frühen 20. Jahrhundert
erschütterten, insbesondere des griechisch-türkischen Krieges, in dessen Folge
gut zwei Millionen Menschen zur Umsiedlung gezwungen wurden. Die verlassene
Ameiseninsel wird Zuflucht für Verfolgte und Versehrte, die dort mit
bescheidenen Mitteln – und stets zwischen den Schlagschatten erfahrener
Traumata und neuer Bedrohungen – eine neue Existenz aufzubauen vermögen.
(JK 03/15)
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