Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2016: Flandern & die Niederlande


Dit is wat we delen = Dies ist, was wir teilen
Unter diesem Motto präsentieren sich Flandern & die Niederlande als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2016. 

Flandern und die Niederlande teilen nicht nur eine gemeinsame Sprache, das Niederländische, sie können auch auf eine gemeinsame Geschichte zurückblicken, besonders im Bereich der Kultur und Literatur. Nach 1993 werden Flandern und die Niederlande in diesem Jahr zum zweiten Mal gemeinsam Ehrengast der Frankfurter Buchmesse sein. Der damalige Buchmessenauftritt löste geradezu einen Boom an niederländischsprachiger Literatur im deutschen Sprachraum und darüber hinaus aus, und die Popularität niederländischer Autorinnen und Autoren ist seitdem ungebrochen. Mit etwa 250 ins Deutsche übersetzten Titeln aus den Bereichen Belletristik, Kinder- und Jugendbuch, Sachbuch und Poesie wird 2016 eine neue Rekordmarke erreicht werden. 

Am Anfang dieses Erfolgs standen insbesondere Harry Mulisch (1927-2010) und Cees Nooteboom (geb. 1933) mit einigen Büchern, die mittlerweile zu Klassikern geworden sind, wie Harry Mulischs Roman Die Entdeckung des Himmels oder Cees Nootebooms Novelle Die folgende Geschichte und einige Jahre später dessen Berlin-Roman Allerseelen. Die langfristige Popularität der niederländischsprachigen Literatur beruhte aber nicht auf Einzeltiteln, sondern auf der breiten Etablierung einer Autorengeneration, die vielfach mit ihren neuen Werken zeitnah auf Deutsch erscheinen. Dazu gehören neben den beiden Galionsfiguren Mulisch und Nooteboom etwa Adriaan van Dis (geb. 1946), Anna Enquist (geb. 1945), Maarten 't Hart (geb. 1944), A. F. Th. van der Heijden (geb. 1951), Margriet de Moor (geb. 1941), Connie Palmen (geb. 1955) und Leon de Winter (geb. 1954). 


Bei allen Unterschieden zwischen diesen Autorinnen und Autoren entwickelte und festigte sich ein Bild von dem, was niederländischsprachige Literatur ausmacht: Hier trat eine Generation von Erzählern auf, die in erster Linie eine Geschichte zu erzählen hatte, durchaus klug und tiefsinnig, aber ohne artifiziell zu werden, und immer ihrer Geschichte verpflichtet; Romane, die sich durch einen starken Gegenwartsbezug, sogar Alltagsnähe auszeichnen, die realistische Erzählweisen variieren, die fesselnd und auch unterhaltend erzählen. Diese Konstellation traf auf eine Situation zu Anfang der 1990er Jahre, in der man für die deutschsprachige Literatur gerade mehr Welthaltigkeit und die Rückkehr zum Erzählen einforderte, etwas, was insbesondere die Literatur aus den Niederlanden offensichtlich einlöste. Das Realismus-Konzept in der niederländischsprachigen Literatur geht teilweise so weit, dass sich Grenzen zwischen Fiktion und Autobiografie aufheben und so sehr persönliche, intime Bücher entstehen. Die Literatur der Nachbarn bedeutete für den deutschen Leser aber auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen nationalen Vergangenheit und den Gräueln des Dritten Reiches – nicht zuletzt durch die Tagebücher Anne Franks, aber auch durch Romane wie Tessa de Loos‘ Die Zwillinge


In den letzten Jahren haben sich einige jüngere Autoren zu den genannten Schriftstellern gesellt, die mit Regelmäßigkeit auf Deutsch erscheinen, etwa Gerbrand Bakker (geb. 1962), Arnon Grünberg (geb. 1971), Erwin Mortier (geb. 1965), Dimitri Verhulst (geb. 1972) und Tommy Wieringa (geb. 1969). Die niederländischsprachige Literatur war und ist keine Verlängerung des Strandurlaubs mit erzählerischen Mitteln – das führt zu einem Phänomen, das vielleicht am erstaunlichsten an ihrer Popularität ist: Hier gab es keine bekannten und mitunter auch lieb gewonnenen holländischen Klischees wiederzuentdecken, sondern es präsentiert sich eine andere, urbane, moderne Literatur, die gesellschaftliche Entwicklungen thematisiert und von der Situation des Einzelnen in der sich ändernden Wirklichkeit erzählt.


Offensichtlich ist der komplexe Familienroman dafür prädestiniert, eine andere, urbane, moderne Literatur zu repräsentieren, die gesellschaftliche Entwicklungen thematisiert und von der Situation des Einzelnen in der sich ändernden Wirklichkeit erzählt. Der Familienroman erlebt zurzeit eine Renaissance, auch weil er die Möglichkeit bietet, ganz unterschiedliche thematische Akzente zu setzen: Saskia de Coster (geb. 1976) beobachtet in Wir und Ich scharfzüngig das Leben und dessen Deformationen in einem belgischen Villenviertel des ausgehenden 20. Jahrhunderts, vor allem die Mühen des Selbständigwerdens in dieser Umgebung. Dimitri Verhulst erzählt in seinem aktuellen Buch Die Unerwünschten, der Fortsetzung von Die Beschissenheit der Dinge, in zwei Erzählungen auf drastische Weise vom Aufwachsen im Heim bzw. dem Zerfall der Familie. Stefan Brijs (geb. 1969) hat mit Taxi Curaçao eine Vater-Sohn-Geschichte über mehrere Generationen auf den Niederländischen Antillen geschrieben. Für Aufsehen sorgte das Debüt von Kris Van Steenberge (geb. 1963), Verlangen, ein Familienroman, der vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs in der belgischen Provinz spielt. 

Rückblickend fällt auf, dass erst in den letzten Jahren vermehrt flämische Autorinnen und Autoren auf Deutsch publiziert werden. Das mag auch damit zu tun haben, dass einige der wichtigsten flämischen Gegenwartsautoren stilistisch Wege gehen, die nicht dem gefestigten Bild der niederländischsprachigen Literatur entsprechen. In diesem Sinne darf von der Frankfurter Buchmesse 2016 auch eine Differenzierung dieses Stereotyps erwartet werden. Zu den ‚literarischen Schwergewichten‘, die endlich (bzw. z.T. endlich wieder) auf Deutsch erscheinen, gehört Yves Petry (geb. 1967). Im Mittelpunkt seines Romans In Paradisum steht ein Fall von einverständlichem Kannibalismus zwischen zwei Männern; Petry gelingt ein hochintensives und psychologisch genaues literarisches Meisterstück. Peter Verhelst (geb. 1962), einer der experimentellsten Erzähler, geht in Die Kunst des Verunglückens von einer eigenen Gewalterfahrung aus, nämlich einem dramatischen Autocrash, und spürt den Möglichkeiten adäquaten literarischen Erzählens für eine derart wirklichkeitsdeformierende Erfahrung nach. Als dritter flämischer Autor gehört Peter Terrin (geb. 1968) in diese Reihe der in ihrer Heimat äußerst bekannten Stilisten; von ihm erscheint der kurze Roman Monte Carlo, dessen Ausgangspunkt ein Unglück auf der Rennstrecke ist. 


Und die ganz junge Generation? In Flandern und den Niederlanden ist die Diskussion, wer die maßgeblichen jungen Autorinnen und Autoren im beginnenden 21. Jahrhunderts sind, in vollem Gange. Von einer ganzen Reihe von ihnen erscheinen jetzt auch erstmals auf Deutsch Romane: Mano Bouzamour (geb. 1991), Daan Heerma van Voss (geb. 1986), Thomas Heerma van Voss (geb. 1990), Wytske Versteegs (geb. 1983), Joost de Vries (geb. 1983) und Niña Weijers (geb. 1987). Unter anderem stellt sich für diese Generation die Frage, welchen Blick sie auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts haben, insbesondere auf den Zweiten Weltkrieg, und wie sich ihr eigenes Schreiben darüber von dem der vorherigen Generationen unterscheidet. Joost de Vries treibt ein virtuoses Spiel mit Fiktion und Realität – in seinem Roman Die Republik versucht ein junger Nachwuchswissenschaftler an den Nachlass seines Mentors zu kommen, einem Fachmann für so genannte „Hitlerstudien“ und verwickelt sich in die Fallstricke eines teils absurden Wissenschaftsbetriebs. Im nächsten Jahr erscheint Der letzte Krieg von Daan Heerma van Voss auf Deutsch, in dem die Frage, wie man über den Holocaust und das Dritte Reich schreiben kann, noch einmal sehr radikal gestellt wird, wenn der Protagonist, ein Autor mit jahrelanger Schreibblockade, beginnt, Zeitzeugnisse zu fälschen.


Auch die jungen Autoren thematisieren moderne Familienbeziehungen, insbesondere das Prekäre familiärer Bindungen: Niña Weijers in ihrem Coming-of-Age-Roman Die Konsequenzen und Thomas Heerma van Voss in Stern. Darin erzählt er von der Lebensbilanz eines frühpensionierten Lehrers und von dessen Bemühungen um seinen ursprünglich aus Korea stammenden Adoptivsohn. In Wytske Versteegs Boy macht sich eine Mutter auf die Suche nach den Ursachen des Todes ihres Adoptivsohnes, der nach einem Schulausflug leblos am Strand gefunden wurde. 

Es gibt wahrscheinlich kaum eine andere kleinere Sprache, die in der Breite derart präsent auf dem deutschen Buchmarkt ist. Das rührt auch daher, dass zahlreiche deutschsprachige Verlage, Literaturagenten und Übersetzer mitverfolgen, was an neuen Titeln auf Niederländisch erscheint. Ist die Frankfurter Buchmesse 2016 daher vor allem ein schönes Wiedersehen mit einem alten Bekannten, den man nie aus dem Blick verloren hat? In den 1990er Jahren stand die niederländischsprachige Literatur auch für ein anderes Lebensgefühl, das vielleicht am besten zum Ausdruck kommt in A. F. Th. van der Heijdens anarchisch-unbändigem Romanzyklus Die zahnlose Zeit. Nach der Jahrtausendwende lieferte dann das konsensorientierte, so genannte niederländische Poldermodell neue Vorstellungen für das Leben und Arbeiten im 21. Jahrhundert, von der Arbeitszeitgestaltung bis hin zur Stadtplanung und Architektur. Erinnert sei an den niederländischen Pavillon auf der Expo 2000. Die belgische Hauptstadt Brüssel steht längst synonym für die Europäische Union. Diese gesellschaftlichen Veränderungen und Visionen schlagen sich auch in der alltagsnahen niederländischsprachigen Literatur nieder, beispielsweise in Form neuer Selbst- und Lebensentwürfe, in Beziehungsmodellen, Vorstellungen vom Altern und in Biografien; also weniger als explizite Themen sondern eher als soziokultureller Unterstrom.

Die Literatur in Flandern und den Niederlanden ist in diesem Sinne aber nicht nur ein Versuchslabor für Visionen des Zusammenlebens, sie muss sich auch den Konflikten und Desillusionierungen des beginnenden 21. Jahrhunderts früh stellen: etwa den Morden an dem Rechtspopulisten Pim Fortuyn oder an dem islamkritischen Filmemacher Theo van Gogh, den Leon de Winter in seinem Roman Ein gutes Herz verarbeitet. In Belgien ist das staatliche Zusammenleben von Wallonen, Flamen und der deutschsprachigen Gemeinschaft ein beständiges, stets neu auszuhandelndes und bisweilen brüchiges Experiment. Die scheiternde Integration vieler junger Migranten entzündet sich in Gewalt und Aggression, eine Radikalisierung, wie sie der marokkanisch-flämische Autor Fikry El Azzouzi (geb. 1978) in Wir da draußen darstellt. In Samir, genannt Sam, einem Coming-of-Age-Roman, schildert der marrokanisch-niederländische Autor Mano Bouzamour (geb. 1991) das schwierige Aufwachsen zwischen zwei Kulturen in Amsterdam. Auch Kader Abdolah (geb. 1954), ein iranischer Exilschriftsteller, der auf Niederländisch schreibt, erzählt in der Novelle Die Krähe vom Ankommen in den Niederlanden. Migration ist das Thema des vielstimmigen und labyrinthischen Romans Das schönste Mädchen von Genua von Ilja Leonard Pfeijffer, der selbst nach Genua emigriert ist und die Geschichten der in der Hafenstadt strandenden afrikanischen Flüchtlinge aufzeichnet. Flüchtlingsschicksale spielen ebenfalls eine zentrale Rolle in Tommy Wieringas Parabel Dies sind die Namen.

Von Stefan Wieczorek. (www.frankfurt2016.com/de/cover/fiktion)

Eine Liste aktueller Neuerscheinungen auf dem deutschen Buchmarkt anlässlich des Ehrengastauftritts:

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