Bucerius Kunst Forum
Montag 12.12.2016 20.00 Uhr
Rathausmarkt 2, Hamburg
Eintritt: frei – um Anmeldung unter
www.zeit-stiftung.de/anmeldung/hoersalon oder an der Kasse des Bucerius Kunst
Forums wird gebeten. Sendetermin der Aufzeichnung: 1. Januar 2017, 20.00 Uhr im
„Sonntagsstudio“ auf NDR Kultur.
Raoul Schrott präsentiert seine
Schöpfungsgeschichte Erste Erde, die bei Hanser erschienen ist. Mit ihm
zu Gast beim „HörSalon“ im Bucerius Kunst Forum ist Hermann Parzinger,
Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, ein international renommierter
Archäologe und Grenzgänger zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. Er hat
zuletzt ein Buch über das Abenteuer Archäologie. Eine Reise durch die
Menschheitsgeschichte im Beck Verlag veröffentlicht. Moderation: Alexander
Solloch moderiert den Abend.
Es sei ihm ein
existenzielles Bedürfnis gewesen, er hätte es einfach wissen wollen, alles, was
man über die Entstehung der Erde und des Mondes, die Entstehung des Lebens, die
Entstehung der Einzeller bis zu den Höhlenmalereien weiß. Nur, wie schreibt,
wie berichtet man darüber? Die Fakten stehen in der Schöpfungsgeschichte, die
Raoul Schrott mit Erste Erde Epos vorlegt, auf etwa 100 Seiten im Buch
VIII. Dem Anhang voraus gehen sieben Bücher, in denen Reise- und
Wissenschaftsberichte in einer grandiosen Textkomposition mit prosaischer
Poesie und poetischer Prosa verknüpft sind. Erste Erde ist die
ungewöhnlichste Neuerscheinung dieses Jahres, ein wunderschönes Buch – und
genau die richtige Lektüre für lange Wintertage und -nächte.
Raoul Schrott ist so eine
Art Spezialist für epochale Aufgaben in der deutschsprachigen Literatur. Der
habilitierte Sprachwissenschaftler hat aus dem Bretonischen, dem
Okzidentanischen, Lateinischen, Griechischen, Gälischen, Französischen und
Italienischen übersetzt. Dank ihm gibt es Homers Illias (2008), das Gilgamesh-Epos
(2011) und Hesiods Theogonie (2014) in einem so lesbaren wie lesenswerten
Deutsch. Zu einem Lyrik-Bestseller wurde seine umfangreiche Anthologie Die
Erfindung der Poesie (1998), für die er „Gedichte aus den ersten
viertausend Jahren“ neu übersetzte. All das lässt auf einen eifrigen Gelehrten
schließen, der seine Tage im stillen Kämmerlein verbringt. Tatsächlich ist
Raoul Schrott seit jeher ein fast schon manischer Forschungsreisender auf einem
einmaligen, poetischen Welterkundungstrip: In Finis Terrae (1995)
erzählt er von einer Reise nach Thule, wo man einst das Ende der Welt
vermutete, Tristan da Cunha (2003) spielt auf einer winzigen Insel im
Ozean zwischen Brasilien, Südafrika und der Antarktis, und in seinem Logbuch Die
fünfte Welt (2007) berichtet er von der Suche nach dem letzten noch
unbekannten Ort der Erde. Den beredten Auftakt zu den Reisebüchern bildet sein
1988 erschienenes Debüt Dada 21/22: Musikalische Fischsuppe mit
Reiseeindrücken. Doch seinen Anfang nahm das alles „ein paar Tage vor Sao
Paulo“, wo Raoul Schrott 1964 auf einer Schiffsreise zwischen Brasilien und
Europa geboren wurde.
Für seine
Schöpfungsgeschichte hat er in sieben Jahren einen „Stationenweg“ rund um die
Welt absolviert. Er war in Australien, um sich die Reste einer 3,5 Milliarden
Jahre alten vulkanischen Lagune anzusehen, in der die ältesten Fossilien
erhalten geblieben sind, die von Leben zeugen, in New York hat er die fossilen
Reste eines Waldes besichtigt, in der kanadischen Tundra ist er auf dem Weg zu
den über vier Milliarden Jahre alten Überresten des ersten Festlandes auf der
Erde „fast von einem Bären gefressen worden“. Gleichzeitig hat Raoul Schrott
das bis heute bekannte Faktenwissen zusammengetragen, nicht einfach nur in
Buchrecherchen, sondern in vielen persönlichen Gesprächen mit Wissenschaftlern.
Dieses Wissen und seine persönlichen Eindrücke von Orten und Dingen, die mit
der Entstehungsgeschichte der Welt und des Lebens verbunden sind, hat er
schließlich in ein poetisches Entwicklungsbad getaucht. Entstanden ist dabei
ein vielstimmiges Buch ohne einen durchgängigen Erzähler, Raoul Schrott spricht
durch „Masken“, wie er im Vorwort schreibt, hinter einigen verbergen sich
Wissenschaftler, die er kennenlernte, andere sind fiktive Figuren, und auch er
selbst tritt als Figur auf. Der Textkorpus ist fast durchgängig eine Collage:
Schon das ungewöhnliche Inhaltsverzeichnis ergänzt in ausführlichen Kurztexten,
was in den einzelnen Kapiteln erzählt wird – und gibt den nichtlinearen
Lesemodus vor, zu dem der Text immer wieder einlädt und anhält. Den Auftakt zum
Buch 1 bildet unter dem Titel Erstes Licht die letzte „mündlich entstandene
Kosmogonie: der Weltschöpfungsmythos der Maori, bevor wir mit George Allan
Moore vom Urknall zwischen 13,82 bis 13,3 Jahrmilliarden vor der Gegenwart
erfahren. Es geht weiter mit Wasserstoff, dem ersten Element und einem Jungen,
der sich 1970 „in die Luft sprengte“, weil er „Wasser machen wollte“.
Ergänzt wird der
Haupttext durch kurze Wissensschnipsel am Textrand, die in blauer Schrift
eingeblendet werden. Zum Beispiel heißt es da: „Entstehung der Schwämme als
erste vielzellige Organismen vor etwa 750 Millionen Jahren“. Hier wird ein Text
über „Tirol. Vorarlberg“ ergänzt, der die Frage aufwirft, wo und was Heimat
ist. Um die „Entstehung unseres Gebisses“, „die Entstehung des Kopfnickens und
-drehens“, geht es in den Wissensschnipseln, während die emeritierte polnische
Zoologin Zofia Kalin-Halzska aus ihrem Leben erzählt – und von Vergewaltigung
und Folter. Sie überlebte und forschte nach dem Krieg über die „ersten,
rattenartigen Säugetiere“. Und natürlich tauchen dann auch „Erste Menschen“
auf: Raoul Schrott erzählt in einem langen Prosagedicht von der Suche nach
jenen Menschenaffen, aus denen wir hervorgingen. Ganz zum Schluss wird dann
auch noch deutlich, welchen Fingerabdruck der Mensch gerade auf der Erde
hinterlässt. Das finale Bild des Bandes kann man als Kommentar dazu lesen: Es
zeigt eine „verdunstete menschliche Träne“.
Erste Erde von Raoul
Schrott ist bei
Hanser erschienen.
(JK 12/16)
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