Thomas Melle liest am Dienstag, 22.11., im Yachtclub im Nochtspeicher

Nochtspeicher
Dienstag  22.11.2016   20.00 Uhr 
Bernhard-Nocht-Str. 69a,  Hamburg
Eintritt: 9 Euro

Zum YachtClub stellt Thomas Melle seine Chronik Die Welt im Rücken vor, die bei Rowohlt Berlin erschienen ist. Friederike Moldenhauer und Tina Uebel moderieren. 

Er ist auf dem besten Weg, eine schlimme Kindheit zu vergessen und so richtig durchzustarten, studiert Literaturwissenschaften und Philosophie, ist ein hochbegabter junger Autor mit einem bestens geölten Gehirn. Was soll so einem schon passieren? Das Buch, in dem Thomas Melle davon erzählt, was dann passiert ist, heißt Die Welt im Rücken. Es ist der Versuch, einer Wiederaneignung seines Lebens, der Versuch, dieser „Gestalt aus Gerüchten und Geschichten“, zu der er geworden ist, seine eigene Geschichte entgegenzusetzen, und das verlorene Ich im Narrativ wiederzufinden.  Eine ironische Gnade dieser Krankheit ist es, das erklären ihm schon früh die Ärzte, dass sie viele Erinnerungen nach dem „Einschlag des Irrsinns“ löscht. Eine Gnade deshalb, weil es streckenweise peinlich ist, was Thomas Melle wiederfuhr, was er getan hat, manchmal aber auch richtig schlimm – und immer wieder nur schwer auszuhalten. Melle erklärt gleich am Anfang, worum es geht, dass man heute mit dem Begriff „bipolar“ beschreibt, was früher „manisch-depressiv“ hieß – und der alte Begriff für ihn direkter umreißt, was ihm passierte.

Zuerst kommt eine manische Phase, in der die Neuronen verrücktspielen, dann die Depression. Drei Phasen von Manie und Depression hat er durchlaufen, sie gliedern sein Buch in die Jahre 1999, 2006 und 2010. Nach dem ersten Schub 1999 denkt er noch, es würde sich alles wieder richten, sich in die Biographie fügen, einmal Geschlossene und nie wieder. Bei Melle schleichen sich die Manien nicht an, sie sind plötzlich da und dann massiv. Es dauert Wochen, bis seine Freunde ihn bei seinem ersten Schub dazu bringen, sich in Behandlung zu begeben. Er entlässt sich schon nach wenigen Tagen selbst – und das immer wieder. Der erste manische Schub dauert drei Monate, der zweite ein Jahr, der dritte eineinhalb Jahre. In den Manien leidet er an Realitätsverlust „bis hin zu halluzinatorischen Momenten“. Er trifft Picasso im Berghain und kippt ihm seinen Rotwein auf die Hose. Er sieht Alexander Kluge vor dem Kanzleramt, Enzensberger als Frau verkleidet in einem Zugabteil, Thomas Bernhard bei McDonalds in Wuppertal.

Und während er mit allerlei Prominenz und der Weltgeschichte per Du ist, verliert er über die Jahre alle, die ihm tatsächlich nahe sind. Er trinkt, klaut, ist aggressiv. Nach den Manien ist dann „das Ich weg, zerstört, genullt“. Die depressiven Phasen überlebt er nur mit Glück. Danach rappelt er sich wieder auf, publiziert, übersetzt, ist als Dramatiker erfolgreich, sein erster Erzählband Raumforderung und sein Romandebüt Sickster erscheinen. Wie schon sein vielgelobter Roman 3000 Euro vor zwei Jahren stand Die Welt im Rücken auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis. Es ist eine mit großer sprachlicher Wucht und viel Feingefühl für die Abgründe erzählte autobiografische Chronik, die sich beim Lesen auch deshalb so tief einbrennt, weil sie von der Unbedingtheit einer existentiellen Bedrohung getragen wird. Hier schreibt einer um sein Leben, und dennoch ist der Krankenbericht nur das Beiwerk des literarischen Versuchs der Rekonstitution und Rekonstruktion eines Ichs. Der Text bleibt, als Einblick und als Aussicht, auch wenn die Neuronen vielleicht irgendwann wieder explodieren.

Die Welt im Rücken  von Thomas Melle ist bei Rowohlt Berlin erschienen.
(JK 11/16)

Keine Kommentare: