Buchhandlung & Antiquariat Lüders
Montag, 10.02.2020 20.00 Uhr
Heußweg 33, Hamburg
Eintritt: 8 Euro
Shakespeare und der Durchschnittsmensch: Regina
Porter liest aus ihrem Roman Die Reisenden, der bei S. Fischer erschienen
ist.
Sie glaubt an Hamlets Jugendfreunde Rosenkranz und
Güldenstern so wie andere Kinder an den Weihnachtsmann. Kein Wunder, dass
Claudia Christie später Literaturwissenschaftlerin und Shakespeare-Forscherin
wird. Der Grund dafür ist ihr Vater Eddie, der den Vietnamkrieg überlebt, aber
mit dem Theaterstück Rosenkranz und
Güldenstern sind tot von Tom Stoppard auch einen profunden psychischen Hau
mit nach Hause bringt, durch den sein weiteres Leben stets begrenzt bleibt. Das
ist eine zentrale Episode in dem wundervollen neuen Roman Die Reisenden der US-amerikanischen Schriftstellerin Regina Porter,
einem weitläufigen Panorama der Zeitläufe, das Mitte des 20. Jahrhunderts
einsetzt und bis in die Jahre der Präsidentschaft von Barack Obama reicht.
Nur einmal falsch abgebogen, schon nimmt das
Schicksal dich in seine ungnädigen Arme, drückt sich an dich und nichts ist
mehr wie zuvor. Das ist eine Erfahrung, die Agnes durch ihr Leben begleitet.
Auf dem Rückweg von einem Familienbesuch gerät die junge Afroamerikanerin mit
ihrem Verlobten Claude auf einer entlegenen Straße in eine Polizeikontrolle. Es
ist eine schreckliche Falle, die beide nur mit Glück überleben und die ihr weiteres
Leben prägen wird. Agnes heiratet nur kurz darauf den Soldaten Eddie Christie
und bekommt mit ihm die beiden Mädchen Beverly und Claudia. „Wo sind die
Münzen?“, das ist der erste vollständige Satz, den die kleine Claudia sagen
lernt, nachdem ihr Vater bei einem Urlaub von seinem Einsatz in Vietnam zum
Einschlafen immer aus dem Theaterstück Rosenkranz
und Güldenstern sind tot von Tom Stoppard vorgelesen hat. Die beiden
Hauptfiguren Ros und Gül stolpern in dem Stück ziemlich unbeholfen durch die
Geschichte rund um Hamlet. Sie sind pausenlos damit beschäftigt, sich die Zeit
zu vertreiben, zum Beispiel mit Münzenwerfen. Für Eddie wird das Theaterstück
zu einer Obsession, durch die er den Krieg überlebt, und für seine Tochter
Claudia sind Shakespeare und der Durchschnittsmensch später ihr „Geschäft“ als
Dozentin an der Universität. Verheiratet ist sie mit Rufus, einem
Joyce-Forscher, der dem zweiten Familienverband des Romans angehört.
Dennoch sind Die
Reisenden viel mehr als ein Familienroman. Kunstvoll hat Regina Porter ihr
Figurenensemble aus über 30 Personen in ein sehr zeitgemäßes,
multiperspektivisches Panorama eingebunden, es gewährt eine Innenansicht,
nämlich dann, wenn die Figuren von sich selbst und von den kleineren und
größeren Dramen ihres Lebens erzählen, und eine Außenansicht, für die
Interviews, Briefe, berichtende Passagen und durchgängig auch Fotos
eingeflochten sind. Das dramaturgische Grundgerüst des meisterhaft komponierten
Romans bildet eine unerfüllt bleibende Liebesbeziehung, die sich zu Anfang
andeutet und erst auf den letzten Seiten aufgelöst wird. Die Reisenden sind ein intelligent gemachter, gut erzählter und
sehr spannender Roman.
Regina Porter studierte am renommierten Iowa
Writer’s Workshop und erhielt mehrere Schreibstipendien. Sie ist eine vielfach
ausgezeichnete Theaterautorin, sie arbeitete u.a. mit Playwrights Horizons, New
York Stage & Film und The Women’s Project zusammen. Ihre bisherigen Texte
wurden in der Harvard Review veröffentlicht. Porter wurde in Savannah, im
US-Bundesstaat Georgia, geboren, und lebt heute in Brooklyn.
Die Reisenden von Regina Porter ist bei S. Fischer
erschienen.
(JK 02/20)
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