Antonio Scurati: M, der Sohn des Jahrhunderts (Klett-Cotta)

Sechs Jahre braucht Benito Mussolini, um zum einflussreichsten Politiker im krisengeschüttelten Nachkriegsitalien zu werden. Sechs Jahre, um den Faschismus als Staatstheorie zu verankern und ein autoritäres Regime zu implementieren. Antonio Scuratis Roman M, der Sohn des Jahrhunderts ist wie ein Spiegel europäischer Geschichte – und ein Mahnmal gegen die Rückkehr des Faschismus in Europa.

Im Jahr 1919 gleicht Italien einem politischen Trümmerfeld. Der Erste Weltkrieg hat die italienische Regierung massiv geschwächt, sozialistische wie rechtsnationale Gruppen erleben einen noch nie dagewesenen Aufstieg und stellen politische Institutionen radikal in Frage, während frustrierte Kriegsheimkehrer durch die Straßen des Landes ziehen. Getrieben von ihrem Unmut lassen sich die ehemaligen Kämpfer bald von einem Mann einen, der sie zu gemeinsamen Aktionen gegen die politische Linke aufruft: Benito Mussolini, Gründer des Il Popolo d’Italia und ehemaliger Chef des linksextremen Flügels der sozialistischen Partei Italiens. Dem Fünfunddreißigjährigen gelingt es, sich in Zeiten politischer Unsicherheit Gehör zu verschaffen und unterschiedlichste Gruppierungen unter einem gemeinsamen Banner zu versammeln. Bis zum berühmten Marsch auf Rom 1922 und darüber hinaus wird Mussolini seine Macht in Italien rasant ausbauen und den Faschismus als Staatsideologie unwiderruflich festschreiben.

Dieses Buch ist wichtig in unserer heutigen Zeit, in der die Ideen des Faschismus vom ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts wieder Auferstehung feiern, die Monstrosität dieser Bewegung verharmlost und relativiert wird und als vermeintlich freie Meinungsäusserung in die öffentliche Meinung einsickert. Es ist erschreckend diese Entwicklung im Roman zu folgen. Hierbei ist es sicherlich diskussionswürdig, dass Scuratis Kniff die Geschichtsschreibung aus der Sicht des Täters befördert. Scurati versucht, in die Geschichte viel hineinzupacken, viele Personen mit Nebenschauplätzen. Das macht das Bild zwar umfangreicher, aber lässt bisweilen nicht genügend Tiefe. So bekommt man eine umfassende Geschichtslektion, die dann bisweilen den Roman in den Hintergrund drängt. Das macht das Buch allerdings nicht weniger lesenswert.

Antonio Scurati, 1969 in Neapel geboren, lehrt an der Universität Mailand und koordiniert dort das Forschungszentrum für Kriegs- und Gewaltsprachen. Seine Romane sind in viele Sprachen übersetzt und wurden mehrfach mit Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Premio Mondello und dem Premio Campiello. Sein jüngster Roman M. Der Sohn des Jahrhunderts steht seit Erscheinen im Herbst 2018 auf der italienischen Bestsellerliste und wurde von der internationalen Presse gefeiert und erhielt den wichtigsten Literaturpreis Italiens, den Premio Strega.

M, der Sohn des Jahrhunderts von Antonio Scurati ist bei Klett-Cotta erschienen.
(JK 07/20)

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