Es waren einmal zwei Könige und liefen sich über den Weg. Der eine von ihnen – Akbar der Große – war als König sofort kenntlich. Er war die Sorte König, die herrscht und nachher mit Sätzen wie diesem in dickleibigen Geschichtsbüchern verewigt wird: „Akbar, der selbst weder lesen noch schreiben konnte, förderte Kunst und Wissenschaft.“ Der zweite König aber war viel schwerer zu erkennen. Auf einem Ochsenkarren und in dem bunten Mantel eines Harlekins kam er in Akbars Stadt gefahren. Sein Gold war das Sonnenlicht auf einem See, seine Soldaten waren seine Worte. Denn dieser zweite König – der dell’Amore hieß oder vielleicht Vespucci – war die Sorte König, die erzählt.
Und wer wüsste besser um Macht und Ohnmacht eines Erzählers, aber auch um Macht und Ohnmacht eines Herrschers als Salman Rushdie, der machtvoll über seine Geschichten herrscht und, seit Die satanischen Verse zu ihnen zählen, um sein Leben fürchten muss? Wie Scheherazade lässt er in seinem neuen Roman Die bezaubernde Florentinerin, der bei Rowohlt erschienen ist, den Fremdling, der mit dem Ochsenkarren kam, um sein Leben erzählen. Und Akbar der Große, der traumverlorene Mogulkönig im goldenen Indien, hört zu.
Ist das ein Märchen wie aus Tausendundeiner Nacht? Während man auf einem prachtvollen Teppich aus duftenden Worten und golddurchwirkten Sätzen durch diese Geschichte fliegt, will man es glauben. Denn man begegnet Riesen und Räubern auf diesem Flug, Prinzen, Prinzessinnen und Zauberern. Doch ebenso sehr ist Salman Rushdies Die bezaubernde Florentinerin ein historischer Roman – in jahrelanger Arbeit akribisch recherchiert und, wie zum Beweis, mit einem umfangreichen Quellenverzeichnis versehen. Wie aber passen ein Medici-Papst, der Philosoph Niccolò Machiavelli, der Admiral Andrea Doria, der später Dracula genannte Vlad, der Pfähler, und der Entdecker Amerigo Vespucci, der Amerika seinen Namen gab, in ein Märchen?
Das Zauberwort, das Salman Rushdies Roman aufschließt, heißt UND. Die bezaubernde Florentinerin ist ein historischer Roman UND ein Märchen, das im Orient UND im Okzident spielt und von Macht UND Ohnmacht, Vergangenheit UND Gegenwart, Verfallenheit UND Freiheit erzählt und dabei Faktisches ins Gewand der Fabel und Fabelhaftes ins Gewand des Faktums kleidet. Immerhin: Man schreibt das Jahr 1572, als sich die beiden Könige – Akbar und der Harlekin – begegnen. „Die bilderreiche, enthüllende Traumpoesie des Alltäglichen“, schreibt Rushdie, „war noch nicht von der engstirnigen, nüchternen Wirklichkeit erdrückt.“
Die Behauptung des Fremden im Harlekinmantel jedenfalls scheint trunken. Erzählend will er beweisen, dass er ein Verwandter Akbars ist – trotz seines gelben Haars und trotz seiner europäischen Herkunft. Und so wendet sich der Roman vom Orient dem Okzident zu, kehrt von seinem Ende zu seinem Anfang zurück, wandert gen Westen und in der Zeit, bis er, rund hundert Jahre zuvor, Florenz erreicht, wo drei Jungen in einem Alraunenwald spielen. Einer von ihnen ist Machiavelli, der spätere Philosoph und Staatsmann, ein anderer ist Antonio Argalina, der, früh verwaist, den Lockruf der Ferne hört und in den Orient aufbricht. Er wird zum Bindeglied zwischen den Welten und ebenso zum Bindeglied von Fakt und Fabel. Als Kommandeur wilder Janitscharen, von vier Albino-Riesen aus der Schweiz begleitet, wird er Vlad, den Pfähler, pfählen, den Schah von Persien besiegen und schließlich in ein Florenz zurückkehren, das die Medici beherrschen und in dem Machiavelli, der Freund, Glück hat, wenn er nicht um sein Leben fürchten muss.
Doch Argalina kommt nicht allein, und es ist das große Geheimnis dieses Romans, das ihn begleitet – es ist Qara Köz oder Schwarzauge, Prinzessin und Zauberin aus dem Mogulreich, der die Männer reihenweise verfallen und die um ihrer Freiheit willen ihre Freiheit an diese Männer verkauft. Ist das paradox? Ist die im Wortsinn bezaubernde Florentinerin, die keine Florentinerin ist, eine von der Geschichte getilgte, zum Geheimnis gemachte Verwandte Akbars? Kann sie die Mutter jenes Harlekins sein, der hier um sein Leben erzählt? Würde es helfen zu rechnen?
Nein, berechenbar ist dieser Roman nie – er hat andere Tugenden. Er ist prachtvoll geschrieben – wie von einem Akbar der Worte; er ist listig erzählt – wie von einem lächelnden Harlekin. Er ist ein tollkühner, verwegener, aber auch ein weiser Roman, der stets das UND und nie das ENTWEDER/ODER lehrt. Zugleich aber erzählt Die bezaubernde Florentinerin eine ganz einfache, einfach märchenhafte Geschichte, über der leicht eine tausendundzweite Nacht vergeht, bis man endlich weiß, wie sie ausgeht.
Salman Rushdie wurde 1947 in Bombay geboren und studierte in Cambridge Geschichte. Mit seinem Roman Mitternachtskinder aus dem Jahr 1983 wurde er weltberühmt. Seine Bücher erhielten renommierte internationale Auszeichnungen und sind in über zwei dutzend Sprachen übersetzt worden. Zuletzt wurde ihm 1996 der Aristeion-Literaturpreis der EU für sein Gesamtwerk zuerkannt.
(JK 04/09)
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