Bernardo Carvalho zu Gast bei der Universität Hamburg

Universität Hamburg, Phil Turm C

Donnerstag, 29.10.2009 18.00 Uhr

Von-Melle-Park 6, 20146 Hamburg

Der brasilianische Autor Bernardo Carvalho liest aus seinem im Luchterhand Literaturverlag erschienenen Roman In São Paulo geht die Sonne unter. Gilberto Calcagnotto übersetzt und Karin von Schweder-Schreiner moderiert.

Ein arbeitsloser ehemaliger Texter einer Werbefirma, dem auch noch vor kurzem die Frau davongelaufen ist, besucht ein japanisches Restaurant in seiner Heimatstadt São Paulo. Hier war er früher Stammgast, als er noch mit seinen Studienkollegen über Gott und die Welt diskutierte und selbst hochfliegende Pläne hatte. Eines Abends wird er von Setsuko, der Besitzerin des Lokals, die sonst als reglos-unbemerkter Schatten an der Kasse sitzt, angesprochen, ob er Schriftsteller sei. Nun wäre der Ich-Erzähler in der Tat nur zu gern Schriftsteller geworden, er hat diesen Traum jedoch irgendwann verworfen, aber insgeheim nie ganz aufgegeben. Spontan bejaht er die Frage, worauf die geheimnisvolle Setsuko, die einst sehr schön gewesen sein muss, meint, sie habe eine Geschichte zu erzählen, die nicht der Vergessenheit anheim fallen dürfe, und wenn er gewillt sei, ihr zuzuhören, solle er zu ihr nach Hause kommen. Von Vorteil sei es allerdings, wenn er nichts oder nicht viel über japanische Literatur wisse.

Nun sind zwar die Großeltern des Erzählers aus Japan nach Brasilien eingewandert, aber für ihn selbst ist diese Herkunft stets eine Belastung gewesen, ein Erbe, das er niemals hat annehmen wollen, das ihn aber trotzdem in vielerlei Hinsicht in Brasilien nicht richtig hat ankommen lassen. Er spricht kein Japanisch und lehnt auch die japanische Kultur ab. Und so beginnt Setsuko, ihm ihre unglaubliche Begebenheit zu erzählen, die nicht nur den Ich-Erzähler umgehend in ihren Bann schlägt.

Schon das Haus, das der Erzähler mehrmals aufsucht, ist eine phantastisch-gespenstische Wunderwelt, eine Art japanischer Teepalast mitten in São Paulo, jedoch perfekt getarnt hinter der Fassade eines normalen Gebäudes. In immer neuen Anläufen präsentiert Setsuko eine verwickelte Geschichte, die nach jeder Enthüllung neue Fragen aufwirft, und jede neue Version scheint glaubwürdiger als die vorhergehende.

Die Figuren, um die es geht, sind in eine dramatische Dreiecksgeschichte verwickelt, die sich in Kobe abspielt. Jokichi ist der Sohn eines reichen, verwitweten, vom Leben enttäuschten Unternehmers, der seinen Sohn davor bewahren will, im Zweiten Weltkrieg an der Front sein Leben zu lassen, und ihn deshalb ins Landesinnere schickt, wo er sein Landgut verwalten soll. Anstelle seines Sohnes, vor allem aber ohne dessen Wissen, lässt er den Sohn eines anderen, eines einfachen Arbeiters einer seiner Fabriken, unter dem Namen seines eigenen Sohnes in den Krieg ziehen, wo dieser andere, „falsche“ Sohn stirbt. Als der „echte“ Sohn nach dem Krieg zurückkehrt, ist der Vater tot; und als Jokichi dann von dem Betrug erfährt und den Eltern des an seiner Stelle Gestorbenen eine Wiedergutmachung anbieten will, weigern sich diese, ihn auch nur anzuhören; eine nicht enden wollende Kette von Missverständnissen beginnt.

Von dieser Geschichte hat Setsuko Kenntnis, weil ihre beste Freundin Michiyo sie ihr erzählt hat. Michiyo ist eine Tochter aus gutem Hause, deren Familie jedoch verschuldet ist. Als Jokichi sich in sie verliebt, heiratet sie den reichen Unternehmerssohn, obwohl sie seine Liebe nicht erwidert. Ihr Herz hat sie schon als junges Mädchen an Masukichi verloren, einen Schauspieler, der sie seinerseits jedoch nicht begehrt und nur ausnutzt und demütigt. Masukichi ist Darsteller des Kyogen-Theaters, des komödiantischen Gegenstücks zum No-Theater. Wie durch ein Wunder hat er im Krieg ein Massaker überlebt und schlägt sich seither, da das Kyogen-Theater im Niedergang begriffen ist, in Nachtclubs mehr schlecht als recht durch. Setsuko, die in einer Puppenfabrik gearbeitet und Michiyo in einem Kurs über Puppen kennengelernt hat, lässt sich von ihrer Freundin überreden, für sie als Sekretärin zu arbeiten. In dieser Funktion wird sie zur Botin zwischen dem heimlichen Liebespaar Masukichi und Michiyo, verfällt jedoch selbst dem sinnlichen Charme des Schauspielers. Als sie entdeckt, dass Masukichi auch mit Männern Beziehungen pflegt und Jokichi kennenlernen will, ist sie entsetzt. Und nachdem es ihr nicht gelingt, Michiyo die Augen zu öffnen, geht sie nach Kioto, um dort als Sekretärin für einen alten Schriftsteller zu arbeiten.

Das amouröse Dreieck lädt sich noch dadurch auf, dass der Schauspieler Masukichi von Jokichis unfreiwilliger Kriegsschuld weiß. Und außerdem benutzt der alte Schriftsteller Setsukos Erzählung als Stoff für seinen neuen Roman, den er in Fortsetzungskapiteln in einer Zeitschrift veröffentlicht – was er auf Bitten Setsukos wieder abbricht, nachdem die Veröffentlichung ein großes Echo auslöst. Die Spannungen zwischen Jokichi, Masukichi und Michiyo werden jedoch ins Unerträgliche verschärft, bis Jokichi schließlich verschwindet und sich (offenbar) auf einem heiligen Berg das Leben nimmt.

Als der Ich-Erzähler kurz davor zu stehen glaubt, endlich die letzte Wendung dieser dramatisch-verrätselten Geschichte enthüllt zu bekommen, und noch einmal zum Haus Setsukos kommt, ist dieses Haus über Nacht verschwunden, genau wie Setsuko selbst. Doch sie hat eine Fährte hinterlassen, die den Erzähler zunächst ins Hinterland São Paulos führt, in die kleine Stadt Paraiso, wo sich viele japanischstämmige Einwanderer angesiedelt haben: Dort erfährt der Ich-Erzähler, dass Setsuko in Wirklichkeit Michiyo heißt, die Figur Setsuko also bloß eine Erfindung war …

Nun ist es endgültig um den Erzähler geschehen: Die Suche nach der Wahrheit wird zur Besessenheit. Mit seinem letzten Geld reist er nach Japan, irrt von Hinweis zu Hinweis, lernt vor allem das ungeliebte und fremde Land seiner Vorfahren kennen wie auch die Hintergründe von Michiyos, Jokichis und Masukichis Geschichte. Das letzte Steinchen des Mosaiks findet er dann aber erst in Paraiso, im brasilianischen Hinterland, wo ihm klar wird, warum die japanische Restaurantbesitzerin so lange warten musste, um ihre Geschichte zu erzählen, und warum es ihr so wichtig war. Und warum er ihr Zuhörer wurde.

Bernardo Carvalho wurde 1960 in Rio de Janeiro geboren. Er studierte Journalismus, war Redakteur sowie in Paris und New York Auslandskorrespondent für die Tageszeitung Folha de São Paulo. Er hat Oliver Sacks und Bruce Chatwin ins Brasilianische übersetzt und in Brasilien mehrere Romane und einen Band mit Erzählungen veröffentlicht. Seine Werke sind in zwölf Sprachen übersetzt. Für Neun Nächte, seine Erstveröffentlichung in deutscher Sprache, erhielt er die beiden renommiertesten Literaturpreise Brasiliens: Machado de Assis und Jabuti.

In São Paulo geht die Sonne unter von Bernardo Carvalho ist bei Luchterhand erschienen.
(JK 10/09)

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