Der Sommer 1989 wird in Ma Jians Roman Peking Koma, der bei Rowohlt erschienen ist, zum neuralgischen Punkt der Entwicklung eines Landes, das unter dem Zeichen der Befreiung jahrzehntelang von Mao Tsetung mit mörderischen Kampagnen überzogen wurde und das bis heute keinen Weg gefunden hat, mit seinen Hinterlassenschaften und den Verwüstungen in den Seelen der Menschen umzugehen. Protagonist und Erzähler ist Dai Wei, 23, Student der Molekularbiologie an der Pekinger Universität, der seine Doktorarbeit vorbereitet. So etwas wie Privatsphäre ist praktisch unbekannt, in den engen Wohnungen der Familien und erst recht in den Studentenwohnheimen auf dem Campus. Alles, was geschieht, findet vor aller Augen statt, Diskussionen, Liebesbeziehungen, alles Persönliche. Auch das trägt dazu bei, dass das Brodeln immer stärker wird. Als die Panzer den Protesten auf dem Tiananmen-Platz ein blutiges Ende bereiten, wird Dai Wei von einer Kugel lebensgefährlich am Kopf verletzt und liegt ab da im Koma. Bei wachem Geist eingesperrt in einen bewegungsunfähigen, tot wirkenden Körper, erinnert er sich...
Der chinesische Autor Ma Jian wurde am 18. August 1953 in Qingdao in der Provinz Shandong geboren. Im Jahr 1976 ist er von Qingdao nach Peking gezogen. Nachdem er als Fotojournalist für ein staatliches Magazin gearbeitet hatte, unternahm er eine dreijährige Reise durch China und sammelte seine Eindrücke in dem Reisebericht "Red Dust: 3 Jahre unterwegs durch China", für den er den Thomas Cook Travel Book Award erhielt. 1987 zog er von Peking nach Hongkong, weil einige seiner Werke unter dem Verdacht der "geistigen Verschmutzung" in China verboten wurden. In Hongkong gründete er das Verlagshaus Hong Kong New Century Press. Ma Jian reiste aber 1989 wieder nach China, um die Aktivisten auf dem Platz des Himmlischen Friedens zu unterstützen. Im Jahr 1997 zog er nach Deutschland und unterrichtete dort Moderne chinesische Literatur; seit 1999 lebt er in England. Sein kürzlich ei Rowohlt erschienenes Buch Peking Koma ist eine weit ausholende literarische Nachzeichnung der Vorgänge um die Niedwrschlagung der Demokratiebewegung, des Versuchs der Studenten, das verkrustete politische System des Landes aufzubrechen und eine Diskussion in Gang zu setzen über Reformen und wirkliche Freiheit.
Peking Koma von Ma Jian, ist bei Rowohlt erschienen.
(JK 10/09)
Interview:
B@T: Sie lebten als Schriftsteller und Maler in Beijing und sind seit 1999 in London. Im Vorfeld der Buchmesse gab es in Zusammenhang mit dem Auftritt Chinas als Gastland der diesjährigen Buchmesse leidenschaftliche Diskussionen und Reaktionen, wer auftreten darf, wer die chinesische Literatur vertreten darf. Das legt die Fragen nah, wer gilt in China als chinesischer Schriftsteller? Es sieht momentan so aus, dass selbst der in Frankreich lebende chinesische Literaturnobelpreisträger Gao Xinjiang nicht dazugezählt wird.
Ma Jian: Ich glaube für einen Autor ist die Sprache wichtig und nicht wo er wohnt. Ich rede jetzt hier für China, aber auch London ist mein Heimatland. Ich glaube, die Deutschen können das gut nachvollziehen, haben sie doch selbst in ihrer Geschichte gleiche Erfahrungen, Bertolt Brecht war ja z.B. auch im Exil. Wo es in einem Land nicht möglich ist zu schreiben, ist es normal, dass ein Schriftsteller sein Land verlassen muss, denn er braucht die Freiheit zum Schreiben. Nur wenn ein Autor die innere Freiheit hat zu schreiben, kann er ein guter Autor sein und muss sich zumindest nicht selbst zu belügen.
B@T: Wegen des Verdachts der geistigen Verschmutzung waren einige ihrer Bücher in China verboten. Was ist geistige Verschmutzung? Wie können Sie uns das erklären?
Ma Jian: Ich glaube, das Buch Peking Koma wird in China nie veröffentlicht, da es schon im Internet zensiert wird. Auch bei meinen veröffentlichten Büchern wurden einfach Szenen geändert. Das Problem ist heute noch, dass Autoren das schreiben müssen, was der Regierung gefällt und das ist für mich die größte Gefahr.
B@T: Für mich ist die Kunst eine Flucht, sie lindert die Langeweile und macht das Leben etwas erträglicher. Ab wann hat diese Fluchtmöglichkeit nicht mehr positiv gewirkt für Sie?
Ma Jian: Als ich das Buch Red Dust geschrieben habe, kam es mir selbst vor, als ob ich ein Reisender bin. Ich habe all die Jahre erlebt, wie alles von der kommunistischen Partei kontrolliert wurde. In Tibet zum Beispiel gab es keinen Buddha mehr, also keine Rettung und Erlösung für die Menschen. Erst 15 Jahre später habe ich alle Erlebnisse aufgeschrieben. Wenn man keine Ausweg mehr in seinem Leben hat, dann beginnt man eine Reise zu machen. Und auf der Reise glauben wir endlich eine Richtung zu haben. Aber die eigentliche Richtung muss man innerlich finden. Je weiter man auf seinem Weg läuft desto näher kommt man zu sich selbst. Deshalb kann ich jetzt in London oder Deutschland wohnen, weil es mir als Mensch nicht mehr so wichtig ist, wo ich wohne. Solange wir an der Sprache festhalten können, können wir alles haben. Am chinesischen Stand jedoch gibt es meine Bücher hier in Frankfurt nicht zu sehen.
B@T: Ihr Buch Red Dust ist ein Reisebericht über ihre drei Jahre dauernde Reise durch China, die Sie dann 15 Jahre später aufgeschrieben haben. Mittlerweile werden eine ganze Reihe Reiseberichte veröffentlicht, auch Interviewbücher. Wie erklären Sie sich diese Häufung? Ist das eine Suche nach einem anderen China, einem nicht öffentlichen China?
Ma Jian: Das kann man sich so erklären, dass die Zeit von Mao vorbei ist und die Zeit von Deng sich niederschlägt. Es gibt eine neue Richtung, nämlich Geld zu verdienen. Die reichen Leute von heute haben damals angefangen private Geschäfte zu machen und die sind richtig reich geworden. Und nun will man das alte China wieder aufspüren. Zeigen wie es sich gewandelt hat, was wir in dem Wandel verloren und was wir gewonnen haben. Eine wichtige Frage für mich ist, was wir an Freiheit gewonnen haben, wo doch nun der Reichtum Einzug gehalten hat. Die Chinesen sind reicher als früher, aber von Meinungsfreiheit ist man noch sehr weit entfernt. Es gibt noch diesen Kollektivgedanken, anders als in Deutschland. Dennoch gibt es Hoffnung. Und ich hoffe auch, dass meine Bücher mal auch auf Chinesisch veröffentlicht werden.
B@T: In ihrem Buch Peking Koma beschreiben Sie wie jemand durch einen Kopfschuss das Bewusstsein verliert. Er liegt im Koma, kriegt jedoch alles von seiner Umwelt mit. Erst zehn Jahre später wacht er wieder auf. Was ist es was ihn am Leben hält?
Ma Jian: Der deutsche Titel heißt Peking Koma, im Chinesischen allerdings „Die Erde vom Fleisch“. Der Protagonist wird 1989 angeschossen, liegt im Koma. Nach dem Ereignis 1989 wollte die Regierung alle Menschen die Niederschlagung der Demokratiebewegung vergessen machen. Und auch heute sieht man kaum ein Buch über 1989. Der Protagonist behält die Erinnerung in seinem Körper. Und zehn Jahre später ist er der Einzige der überlebt.
B@T: Er ist der einzige der überlebt. Aber er hat auch die wichtigen Veränderungen, den grundsätzlichen Wandel der chinesischen Gesellschaft im Koma miterlebt. Hat das Geld die Ideologie, die Hoffnung von damals vollständig abgelöst?
Ma Jian: Als ich den Kranken im Koma beschrieben habe, habe ich versucht, die Erinnerung und die Emotionen zu bewahren. Die Erinnerung ist das einzige Eigentum das wir haben. Die Studentenbewegung am Platz des Himmlischen Frieden scheiterte am Ende und wenn wir die Ereignisse nun vergessen, dann laufen wir Gefahr, noch einmal die Ereignisse zu verlieren. Jedes Volk muss immer seine eigene Vergangenheit reflektieren und auseinandersetzen, wie die Deutschen mit Nazizeit und Holocaust. Und alle solchen Erfahrungen elfen einem Volk weiterzuleben. Ich glaube, wenn einmal diese Ereignisse der Studentenbewegung in China akzeptiert werden, dann hat China begonnen, eine bessere Zukunft zu haben. Tatsächlich hat der Kranke im Koma vom gesellschaftlichen Wandel in den zehn Jahren nichts mitbekommen, aber durch die Erinnerungen, die Pflege seiner Mutter und die Reaktionen der Gesellschaft auf sein Koma, erlebt er die Veränderungen.
B@T: Was auch auffällt, die Spannung entsteht einerseits auch durch den Rückgriff in die Vergangenheit auch viel weiter noch vor 1989 und die Ereignisse am Platz des Himmlischen Friedens. Der Vater von Dai Wei hat ein sehr anrührendes Tagebuch über seine Zeit in einem Lager hinterlassen. Es ist vor allem die Gewalt, die immer wieder präsent ist und immer wieder auftaucht. Gewalt auch gegenüber den Verletzten, den Fremden bis hin zur alltäglichen Gewalt der Mutter die zu guter Letzt eine Niere ihres im Koma liegenden Sohnes verkaufen muss, weil sie nicht genug Geld hat ihn am Leben zu erhalten. Gewalt als die große Konstante in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, ist das auch eines ihrer großen Themen?
Ma Jian: Ich glaube, mit dem Roman wollte ich eigentlich die Frage stellen, gerade in dieser Zeit, in der man nur nach dem wirtschaftlichen Erfolg strebt und dies umjubelt. Wo bleiben da noch die moralischen Werte? Ich glaube, gerade in dieser Geschichte, wo die Mutter um überhaupt überleben zu können, muss sie die Niere ihres Sohnes verkaufen. Ich habe auch in dem Roman geschrieben, dass das Vergessen der Erinnerung wieder eine Verletzung für die Verletzten ist. Ich glaube nach dem Ereignis des 6.4. war noch etwas Schlimmes passiert, nämlich die gedankliche Reinigung. Ich habe vor kurzer Zeit ein paar Freunde aus der chinesischen Provinz getroffen, die zwei, drei Jahre abgetaucht waren, um die Idee nicht zu verraten. Aber am Ende haben fast alle aufgegeben. Man musste das Bekenntnis abgeben, dass die Kommunistische Partei keinen Fehler begangen hat und die Niederschlagung richtig war. Das war die einzige Chance zu überleben, der Staat hätte einen sonst fallen gelassen – keine Arbeit, kein Essen, kein Dach. Ich glaube, man kann vielleicht sagen, dass man mit dem Geld Freiheit gekauft hat. Nur ob diese Freiheit die wirkliche Freiheit ist, ist die Frage. Und gerade wegen dieses Vergessens, kann die Abschreckung durch die Politiker immer noch bei den Chinesen funktionieren. Die Dichter können nur über etwas Harmloses schreiben, was eine Beleidigung für die Leser ist.
B@T: Sie haben in Ihrem Buch „Peking Koma“ die Studenten sehr gut gezeichnet, auf einer Art und Weise, dass man es sehr gut versteht. Es gibt Verbindungen zu allen Studentenaufständen des 20. Jahrhunderts. Sie lesen Freund und Kafka, diskutieren darüber, probieren neue Lebensentwürfe, verbotene Liebesbeziehungen – also kleine Grenzüberschreitungen im Alltag. Was man aber weniger versteht, ist die ungeheure Militanz und die Strukturen wie diskutiert wird, wie Führer aufgestellt werden, die ganze Organisation um die politischen Ereignisse, erinnern doch sehr stark an Parteiverhältnisse, an Machtkämpfe in den Parteien und man fragt sich, ob Sie nachträglich eine gewisse Art der Organisationsform entmystifizieren wollten?
Ma Jian: Hier muss man noch mehr über China wissen. Es gibt neben der Institution der Kommunistischen Partei keine andere mehr. Alle Ebenen werden von ihr kontrolliert. Daher haben die Studenten gar keine anderen Erfahrungen für eine Bewegung. Zum Beispiel hat China 1979 die UNO Erklärung der Menschenrechte unterschrieben aber bis 1989 gab es darüber keinen Hinweis in den chinesischen Medien. Und als sich die Studenten zu organisieren versuchten, so sahen sie tatsächlich aus wie eine kleine kommunistische Partei, konnten aber mit der alten kommunistischen Partei nicht konkurrieren. Und ein Grund warum die Studentenbewegung gescheitert ist, ist dass Begriffe wie Menschenrechte, wie Freiheiten noch gar nicht in der geistigen Welt von Chinesen etabliert sind. Hier in Deutschland kann man zum Beispiel das Individuum eigenständig Entscheidungen für sich selbst oder für das ganze Land treffen, In China ist es umgekehrt: der Staat ist ein großes Ich und das Individuum nur ein kleines Ich. Und auch in der tausendjährigen Kulturtradition haben die Chinesen nur das gelernt, nämlich untertänig und gehorsam gegenüber der Obrigkeit zu sein. Wenn man nun mit Chinesen darüber spricht, dann bekommt man Antworten wie, dass die Demokratie gut ist aber auch dass man sie nicht braucht. Aber eine Veränderung habe ich kürzlich bei der 60jährigen Jubiläumsfeier gesehen. Der Staatspräsident hat „Lang lebe das Volk“ ausgerufen. Ich hoffe, dass das ein schöner Anfang vom Ende wäre.
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