Abschied von wichtigen literarischen Stimmen: Literaturnobelpreisträger Imre Kertesz (*09.11.1929 †31.03.2016)

Mit dem Tod von Imre Kertész verliert die Weltliteratur einen ihrer ganz Grossen. Als Überlebender von Auschwitz hat Kertész radikal wie kein anderer über den „Holocaust als Kultur“ nachgedacht. Er war ein aufrichtiger Dichter und präziser Denker, ein eminenter Zeuge und tapferer Mensch. Imre Kertesz starb am 31. März 86-jährig in Budapest, seiner geliebt-gehassten Geburtsstadt – fernab von Berlin, das er sich 2000 aus Gründen der seelischen Hygiene zur zweiten Heimat erwählt hatte. Es ist dies ein Widerspruch mehr in einem zutiefst von Widersprüchen geprägten Leben.

Imre Kertész wurde am 9. November 1929 in Budapest geboren. Wegen seiner jüdischen Abstammung wurde er mit vierzehn Jahren im Juli 1944 über Auschwitz in das Konzentrationslager Buchenwald und in dessen Außenlager Wille in Tröglitz/Rehmsdorf bei Zeitz verschleppt. Am 11. April 1945 wurde er befreit und kehrte nach Budapest zurück. Diese ihn bis heute prägende Zeit im Lager verarbeitete er zuerst in dem 1973 vollendeten Roman eines Schicksallosen.

Nach seinem Abitur 1948 fand Kertész von 1949 bis 1950 eine Anstellung als Journalist bei der Tageszeitung Világosság, die er jedoch wieder aufgeben musste, da diese zum Parteiorgan der Kommunisten erklärt wurde. Daraufhin arbeitete er zunächst in einer Fabrik und dann in der Presseabteilung des Ministeriums für Maschinenbau und Hüttenwesen. Ende 1951 wurde er zum Militärdienst einberufen.

Nach seiner Entlassung aus dem Militärdienst 1953 begann Kertész in Budapest als freier Schriftsteller und Übersetzer zu arbeiten. Seine schriftstellerische Tätigkeit wurde in seiner Heimat besonders nach dem Aufstand von 1956 durch die kommunistische Diktatur eingeschränkt. Seinen Lebensunterhalt sicherte er sich zunächst mit dem Schreiben von Texten zu Musicals und kleinen Theaterstücken, die er aber nicht zu seinem schriftstellerischen Werk zählt. Als Übersetzer übertrug er unter anderen Werke von Friedrich Nietzsche, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Sigmund Freud, Joseph Roth, Ludwig Wittgenstein und Elias Canetti, welche allesamt sein eigenes Werk entscheidend prägten.

1960 begann er mit der 13-jährigen Arbeit an dem Buch Roman eines Schicksallosen, das zu einem der bedeutendsten Werke über den Holocaust zählt und das seinen Ruhm begründete. Die meisten seiner Texte sind autobiographisch inspiriert. Seine jüngste Buchveröffentlichung Letzte Einkehr. Ein Tagebuchroman, die Kertész selbst als Abschluss seines Werkes bezeichnete, datiert von 2014 (dt. 2015).

Eine breitere Rezeption seiner Arbeit setzte erst nach der Wende von 1989 ein. Seine Werke wurden übersetzt und er hatte zum ersten Mal ein größeres Publikum.
2002/2003 war er Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin, von dem er eine Förderung zur Fertigstellung seines Romans Liquidation erhielt. Im Oktober 2002 wurde Kertész mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.

Am 3. Oktober 2003 hielt Kertész auf Einladung der Landesregierung von Sachsen-Anhalt die Festrede zur zentralen Feier der Deutschen Wiedervereinigung in Magdeburg.
Am 29. Januar 2007 war Kertész Gastredner im Deutschen Bundestag anlässlich des offiziellen Gedenktages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Im Rahmen der Gedenkstunde zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus las er aus seinem Roman Kaddisch für ein nicht geborenes Kind.

Im November 2012 wurde in der Berliner Akademie der Künste das Imre-Kertész-Archiv der Öffentlichkeit präsentiert. Dem Archiv hatte Kertész schon seit Ende 2001 Manuskripte und Korrespondenz überlassen.

Im November 2012 zog Kertész wegen seiner fortschreitenden Parkinson-Erkrankung wieder nach Budapest: Tatsächlich stand er seinem Heimatland kritisch gegenüber. Schon 1990 verließ er den ungarischen Schriftstellerverband, über den er 2004 anlässlich antisemitischer Vorfälle, die eine größere Austrittswelle verursachten, auch einen polemischen Essay verfasste. Kritisch über Ungarn äußerte er sich weiterhin in zwei Interviews von 2009. Als er jedoch 2014 von Ministerpräsident Viktor Orban für den Sankt Stephans-Orden nominiert wurde, nahm er diesen höchsten ungarischen Staatspreis trotz der Gefahr einer politischen Vereinnahmung seiner Person an, denn er sehe die Notwendigkeit, in seinem Land einen „Konsens“ herzustellen.

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