Mit dem Tod von Imre Kertész verliert die
Weltliteratur einen ihrer ganz Grossen. Als Überlebender von Auschwitz hat
Kertész radikal wie kein anderer über den „Holocaust als Kultur“ nachgedacht.
Er war ein aufrichtiger Dichter und präziser Denker, ein eminenter Zeuge und
tapferer Mensch. Imre Kertesz starb am 31. März 86-jährig in Budapest, seiner
geliebt-gehassten Geburtsstadt – fernab von Berlin, das er sich 2000 aus
Gründen der seelischen Hygiene zur zweiten Heimat erwählt hatte. Es ist dies
ein Widerspruch mehr in einem zutiefst von Widersprüchen geprägten Leben.
Imre Kertész wurde am 9. November 1929 in
Budapest geboren. Wegen seiner jüdischen Abstammung wurde er mit vierzehn
Jahren im Juli 1944 über Auschwitz in das Konzentrationslager Buchenwald und in
dessen Außenlager Wille in Tröglitz/Rehmsdorf bei Zeitz verschleppt. Am 11. April
1945 wurde er befreit und kehrte nach Budapest zurück. Diese ihn bis heute
prägende Zeit im Lager verarbeitete er zuerst in dem 1973 vollendeten Roman eines Schicksallosen.
Nach seinem Abitur 1948 fand Kertész von 1949
bis 1950 eine Anstellung als Journalist bei der Tageszeitung Világosság, die er
jedoch wieder aufgeben musste, da diese zum Parteiorgan der Kommunisten erklärt
wurde. Daraufhin arbeitete er zunächst in einer Fabrik und dann in der
Presseabteilung des Ministeriums für Maschinenbau und Hüttenwesen. Ende 1951
wurde er zum Militärdienst einberufen.
Nach seiner Entlassung aus dem Militärdienst
1953 begann Kertész in Budapest als freier Schriftsteller und Übersetzer zu
arbeiten. Seine schriftstellerische Tätigkeit wurde in seiner Heimat besonders
nach dem Aufstand von 1956 durch die kommunistische Diktatur eingeschränkt.
Seinen Lebensunterhalt sicherte er sich zunächst mit dem Schreiben von Texten
zu Musicals und kleinen Theaterstücken, die er aber nicht zu seinem
schriftstellerischen Werk zählt. Als Übersetzer übertrug er unter anderen Werke
von Friedrich Nietzsche, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Sigmund
Freud, Joseph Roth, Ludwig Wittgenstein und Elias Canetti, welche allesamt sein
eigenes Werk entscheidend prägten.
1960 begann er mit der 13-jährigen Arbeit an
dem Buch Roman eines Schicksallosen,
das zu einem der bedeutendsten Werke über den Holocaust zählt und das seinen
Ruhm begründete. Die meisten seiner Texte sind autobiographisch inspiriert.
Seine jüngste Buchveröffentlichung Letzte
Einkehr. Ein Tagebuchroman, die Kertész selbst als Abschluss seines Werkes
bezeichnete, datiert von 2014 (dt. 2015).
Eine breitere Rezeption seiner Arbeit setzte
erst nach der Wende von 1989 ein. Seine Werke wurden übersetzt und er hatte zum
ersten Mal ein größeres Publikum.
2002/2003 war er Fellow am
Wissenschaftskolleg zu Berlin, von dem er eine Förderung zur Fertigstellung
seines Romans Liquidation erhielt. Im Oktober 2002 wurde Kertész mit dem
Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.
Am 3. Oktober 2003 hielt Kertész auf
Einladung der Landesregierung von Sachsen-Anhalt die Festrede zur zentralen
Feier der Deutschen Wiedervereinigung in Magdeburg.
Am 29. Januar 2007 war Kertész Gastredner im
Deutschen Bundestag anlässlich des offiziellen Gedenktages der Befreiung des
Konzentrationslagers Auschwitz. Im Rahmen der Gedenkstunde zum Tag des
Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus las er aus seinem Roman Kaddisch
für ein nicht geborenes Kind.
Im November 2012 wurde in der Berliner
Akademie der Künste das Imre-Kertész-Archiv der Öffentlichkeit präsentiert. Dem
Archiv hatte Kertész schon seit Ende 2001 Manuskripte und Korrespondenz
überlassen.
Im November 2012 zog Kertész wegen seiner
fortschreitenden Parkinson-Erkrankung wieder nach Budapest: Tatsächlich stand
er seinem Heimatland kritisch gegenüber. Schon 1990 verließ er den ungarischen
Schriftstellerverband, über den er 2004 anlässlich antisemitischer Vorfälle,
die eine größere Austrittswelle verursachten, auch einen polemischen Essay
verfasste. Kritisch über Ungarn äußerte er sich weiterhin in zwei Interviews
von 2009. Als er jedoch 2014 von Ministerpräsident Viktor Orban für den Sankt
Stephans-Orden nominiert wurde, nahm er diesen höchsten ungarischen Staatspreis
trotz der Gefahr einer politischen Vereinnahmung seiner Person an, denn er sehe
die Notwendigkeit, in seinem Land einen „Konsens“ herzustellen.
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