Chico Buarque: Mein deutscher Bruder (S. Fischer)

Als er 22 Jahre alt war, fand der weltberühmte brasilianische Musiker und Komponist Chico Buarque heraus, dass er einen deutschen Bruder hat. Dies wurde all die Jahre nie erwähnt. Mit 70 veröffentlicht er nun ein Buch darüber, in dem Fiktion und Realität sich vermischen. Mein deutscher Bruder ist bei S. Fischer erschienen.

Da war er, der Brief, in die Seite 35 eines Buches gesteckt, unter tausenden auf den Buchregalen zu Hause bei der Familie Buarque. Geschrieben von einer Deutschen namens Anne Ernst stand dort „Lieber Sergio“ und erwähnte ein gemeinsames Kind. So erfuhr Chico Buarque, dass er einen deutschen Bruder hatte. Chico Buarque steht am Anfang seiner Musikerkarriere, als er von seinem Halbbruder in Berlin erfährt. Dort lebte der Vater in den späten Zwanzigern und verschwieg, dass er fern von Rio einen Sohn hat. Also macht sich Chico selbst auf die Suche und findet die bezaubernd, verrückte Geschichte von Sergio Günther. Auch Sergio war Sänger, und zwar einer der bekanntesten der DDR.

Inspiriert vom Familienleben der Buarque de Holanda ist das Buch jedoch nicht biographisch, da Fiktion und Realität glücklich nebeneinander bestehen. Der Name des Vaters ist real, Sergio, aber die italienische Mutter, zum Beispiel, ist eine Erfindung von Chico. Es ist keine Geschichte über Untreue oder ein illegitimes Kind, denn Sergio war in Berlin Single und dies lange bevor er in Brasilien die eigentliche Familie gründete. Er war bei der Geburt des Sohnes Sergio Günther schon wieder längst in Brasilien. Der Erzähler der Geschichte (Ciccio, nicht Chico) durchkämmt nicht nur die Vergangenheit sondern auch das heutige Berlin auf der Suche nach den Spuren von Sergio Ernst. Er scheint dem deutschen Bruder überall zu begegnen. Gespenster – Visionen – durchqueren die Seiten. Die Chronologie in der Geschichte kann verwirrend sein, da es ein konstantes Vor und Zurück gibt zwischen den Gedanken, Hypothesen und der Wirklichkeit. Die ständigen Abschweifungen gehören zum Schreibstil Buarques sind aber auch Reflexion über Brüche in diesem Prozess. Mit brasilianischem Blick zeichnet Chico Buarque ein überraschendes und sehr persönliches Bild des ehemals geteilten Deutschlands.

Chico Buarque ist der aufregendste Schriftsteller und berühmteste Sänger Brasiliens. Für die Musik gab er sein Architekturstudium auf. Seine Kunst war ihm besonders in der Militärdiktatur von 1964 bis 1985 Mittel, politisch aufzubegehren. Für seinen Roman Budapest erhielt Buarque den Prêmio Jabuti, die wichtigste brasilianische Literaturauszeichnung.

Mein deutscher Bruder von Chico Buarque ist bei S. Fischer erschienen.
(JK 06/16)

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