In seinem bei Dumont
erschienenen Roman Der Sohn des Hauptmanns stellt Nedim Gürsel Fragen,
die uns alle bewegen: Welchen Einfluss hat unsere Herkunft auf unser Leben? Und
was ist Heimat: ein Land, die Familie oder die Menschen, die man liebt? Ein
alter Mann blickt zurück auf sein Leben, auf Jahre voller gewaltiger Umbrüche,
voller Liebe und Zorn. In seiner Erinnerung lässt er das Istanbul seiner Jugend
wieder auferstehen, seinen übermächtigen Vater, seine geliebte Mutter: ein
ganzes Panorama und zugleich das persönliche Schicksal eines Einzelnen.
Nach vielen Jahren im
Ausland, wo er als Journalist tätig war, ist der Ich-Erzähler im Alter in seine
Heimat Türkei zurückgekehrt. In der Hoffnung, dass sich jemand eines Tages für
seine Erinnerungen interessieren wird, vertraut er seine Gedanken einem Tonbandgerät
an. Erst spät in seinem Leben hat er sich auf seine Eltern und seine Herkunft
besonnen und erkannt, wie prägend seine Kindheit in einer Garnisonsstadt in der
türkischen Provinz war, wie sehr sein Denken und Fühlen bestimmt wurden von den
Jahren in einem Istanbuler Internat mit den derben Scherzen und den ersten
sexuellen Erfahrungen. Vermisste er damals schon seine früh verstorbene Mutter,
oder stellte sich die Sehnsucht nach ihr erst mit zunehmendem Alter ein? Wäre
er mit ihr ein anderer geworden? Was empfand er wirklich für seinen Vater, der
am Militärputsch von 1960 beteiligt war und dem er die Begnadigung eines Mannes
abringen konnte, der der Vater seines besten Freundes und der Ehemann seiner
ersten großen Liebe war?
Mit diesem Roman drückt Nedim
Gürsel Nostalgie seine Verbundenheit mit der Türkei nostalgisch aus,
insbesondere mit Istanbul. Er
hat eine Kritik über Autoritarismus geschrieben: über die Autorität seines
Vaters, die des Internats, die der politischen Macht, die des ersten Premierministers
Adnan Menderes, die des Militärs und die des aktuellen türkischen Präsidenten. Er
beweist damit Mut und entpuppt sich als genauer Beobachter seiner Heimat. Über
die Geschichte einer auseinanderdriftenden Familie erzählt Nedim Gürsel von der Türkei
dieser Tage, zerrissen zwischen Moderne und Tradition, zwischen Okzident und
Orient. Sein Roman pendelt zwischen Nostalgie und Ironie. Sie ist gleichzeitig
eine bewegende Erzählung über das Altwerden, Tod und Einsamkeit. Gürsel bietet eine
reichhaltige Geschichte, in der Vergangenheit und Zukunft fein zusammengebracht
werden.
Nedim Gürsel, 1951 in
Gaziantep, Türkei, geboren, lebt heute in Frankreich. Er lehrte türkische
Literatur an der Sorbonne und ist der Vorsitzende für türkische
Literaturforschung am Centre National de la Recherche Scientifique. Seine
Bücher werden in viele Sprachen übersetzt.
Der Sohn des Hauptmanns von Nedim Gürsel ist bei Dumont erschienen.
(JK 06/17)
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