Emmanuel Carrère: Ein russischer Roman (Matthes & Seitz)

Frankreich – Ehrengast 2017 der Frankfurter Buchmesse

„Mein Leben war verfolgt von Wahnsinn und Horror. Die Bücher, die ich geschrieben hatte, sprachen von nichts anderem. Nach Der Widersacher konnte ich nicht mehr. Ich wollte diesem Zwang entkommen. Und ich dachte, ihm durch die Liebe zu einer Frau und durch Nachforschungen über meine Familie entkommen zu können. Die Nachforschungen drehten sich um meinen Großvater mütterlicherseits, der nach einem tragischen Leben 1944 verschwand und sehr wahrscheinlich als Kollaborateur erschossen wurde. Seine Geschichte ist das Geheimnis meiner Mutter, das Gespenst, das in unserer Familie spukt. Um dieses Gespenst zu bannen, ging ich riskante Wege. Sie führten mich in ein verlorenes russisches Provinzstädtchen, und ich blieb lange dort, auf der Lauer, dass irgendetwas geschehe. Und es geschah etwas: ein grausames Verbrechen. Wahnsinn und Horror holten mich wieder ein. Sie holten mich auch in meinem Privatleben ein. Ich hatte für die Frau, die ich liebte, eine erotische Geschichte geschrieben, die in die Wirklichkeit eingreifen sollte, doch die Wirklichkeit entzog sich meinen Plänen. Sie stürzte uns vielmehr in einen Albtraum, der den grausamsten in meinen Büchern glich und der unser Leben und unsere Liebe zerstörte. Denn darum dreht sich dieses Buch: um die Drehbücher, die wir ausarbeiten, um die Wirklichkeit zu zähmen, und um die fürchterliche Weise, mit der sich die Wirklichkeit dieser bemächtigt, um darauf zu antworten.“

Der Roman belegte im Juni 2017 den Platz 1 der SWR Bestenliste.

„Die subjektive Perspektive des ‚involvierten Zeugen‘ ist Carrère zum Erkennungsmerkmal geworden, er interessiert sich leidenschaftlich für das Ich – sein eigenes, aber auch das der anderen. In seinem russischen Roman erklärt er, dass die erste Person Einzahl auf Russisch wörtlich übersetzt ›im ersten Gesicht der Einzahl‹ heiße – und dank der russischen Sprache enthülle sich ihm sein erstes Gesicht. Dieser Hinweis auf das doppelte Ich unterstreicht die besondere Bedeutung von Identität und Exil für Carrères Rolle als französisch-russischer Autor. Familienbiografie und Zeitgeschichte scheinen unauflösbar ineinander verflochten zu sein.“ (Willi Jasper, Der Tagesspiegel)

Ein russischer Roman beginnt als (aber-)witzige Reisereportage in die finsterste postkommunistische Provinz; nebenbei entspinnt sich ein quälendes Eifersuchtsdrama. Carrère brilliert als Virtuose der Selbstironie. Fast masochistisch blickt er auf die eigene Obsession mit der russischen Seele und auch auf seine aus Minderwertigkeitskomplexen resultierende Liebesparanoia.“ (Richard Kämmerlings, Die Welt)

„Sein Russischer Roman ist viel eher ein französischer Familien- und Beziehungsroman, mehr noch: die Psychoanalyse und Autotherapie eines Gequälten, eine Liebeserklärung an die und Abrechnung mit der Mutter, ein grausamer, rücksichtsloser autobiografischer Bericht, der vom Roman nur das Gewand des schrecklich Unwirklichen entliehen hat.“ (Romain Leick, SPIEGEL Literatur)

„Emmanuel Carrère hat die französische Literatur wieder zu einer internationalen Referenzgröße gemacht.[...]denn dieses Buch ist spannender, schriller, unwahrscheinlicher in seinem Plot und seinen seelischen Exaltationen, als es ein ausgedachter Roman je sein könnte. Dass aller Schaden, den Carrère (performativ) in der Wirklichkeit angerichtet hat, durch das Buch wieder aufgefangen und ästhetisch gerechtfertigt wird ist, bei allem Unglück, das Glück eines genialen Schriftstellers – und seiner Leser.“ (Ijoma Mangold, Die Zeit)

„[E]ine spektakuläre, schonungslose Selbstsuche“ (Andreas Merkel, der Freitag)
„So spannend, elegant und spielerisch das Buch daherkommt, letztlich ist ›Ein russischer Roman‹ ein Gedenkbuch an die Toten. Emmanuel Carrère erschafft ihnen einen Grabstein, an dem er sie betrauert [...].“ (Sabina Meier Zur, NZZ)

„Carrère legt in diesem Buch Zeugnis ab von der bewusstseinsverändernden Wirkmacht des Schreibens und von der gestaltenden Kraft der kreativen Energie eines Künstlers überhaupt, von den Chancen, Dämonen zu bannen, aber auch davon, wie sie ihm am Wegrand des steinigen Pfades auflauern, und wie er sich die Finger blutig kratzt, um die Widerhaken in den eigenen Verstrickungen zu lösen.“ (Gudrun Braunsperger, Ö1)

„[Das Buch] ist kein Egotrip. Es geht vom individuellen immer wieder ins universelle. Man liest diese fluide, hochintelligente und gleichzeitig sinnliche Prosa  mit Vergnügen und Erkenntnisgewinn.“ (Marko Martin, Deutschlandfunk Kultur)

„Der französische Sprachkünstler nimmt in der europäischen Gegenwartsliteratur einen absoluten Sonderstatus ein, weil er sich ebenso virtuos wie einzigartig allen Eingrenzungen entzieht.“ (Werner Krause, Kleine Zeitung)

„[...] [E]in ungewöhnliches, provokantes und schmerzhaftes Buch über Erinnerung, Liebe und Begehren – und über die Kraft von Sprache, die in der Lage ist, Verlust und Scheitern zu überwinden.“ (Jutta Sommerbauer, Die Presse)

Wenn die Psychoanalyse neurotisches Leiden in ordinäres verwandelt, gelingt es Carrère mir seinen nonfiktionalen Texten, menschliches Leiden an und in der Welt in schmerzhaft offenherzige Literatur zu verwandeln.“ (Sophie Weigand, Buchkultur)

Emmanuel Carrère, 1957 in Paris geboren, lebt als Schriftsteller, Regisseur, Produzent und Drehbuchautor in Paris. Er veröffentlichte seit 1982 zahlreiche Romane. Für Limonow wurde er 2011 mit dem Prix Renaudot und dem Prix de la langue française ausgezeichnet. 2014 erhielt er den Prix littéraire du journal Le Monde.

Ein russischer Roman von Emmanuel Carrère ist bei Matthes & Seitz erschienen. 
(JK 08/17)

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