Ein kleiner Ausschnitt Krieg – und doch das ganze Grauen. Im Januar 2000 belagern russische Truppen einen kleinen Ort in der Nähe von Grozny. Dort haben sich tschetschenische Rebellen verschanzt, die mit sporadischen Attacken und Heckenschützenfeuer gegen den russischen Feind vorgehen. Während die „Tschechos“ aber zumindest das Gefühl haben, ihre Heimat zu verteidigen, sind die jungen russischen Soldaten nichts als willenlose Rädchen einer Besatzungsarmee. Schikaniert von ihren Vorgesetzten, verwildert und verwahrlost. Starr vor Kälte und Hunger, vor Dreck und Langeweile. Hier herrschen die Gesetze des Stellungskriegs in all seinen grausamen und grotesken Facetten: Todesangst, Apathie, Hoffnungslosigkeit. In diesem fremden Land ist jeder Ort zu sterben gleich schrecklich, also gleich gut. Krieg ist Charakterbildung, heißt es zynisch: Wer ihn überlebt, dem fällt das Sterben leichter.
„Wozu sind wir hier?“, dachte Artjom. „Diese Schweine, können die uns nicht erklären, was wir hier machen sollen? Von wegen Soldaten! Kanonenfutter sind wir, werden in den Sumpf geworfen, um zu verfaulen; bleibt liegen, verreckt, aber stellt bloß keine Fragen …“ Der 23-jährige Moskauer mit juristischem Hochschulabschluss registriert mit Bestürzung den moralischen Verfall der Truppe – bei seinen Kameraden, bei sich selbst. Hier verliert jeder seine Unschuld.
„Der Tod, den er brachte, war nicht hässlich – ein akkurates Loch im Körper, mehr nicht.“ Nicht dass er tschetschenische Gegner tötet, bereitet Artjom Gewissensqualen. Sondern dass er, ohne es zu wollen, für den Tod eines alten Mannes und eines achtjährigen Mädchens verantwortlich ist. Diese Schuld, das weiß er, wird er nie abstreifen können; diese Bilder vom Sterben werden ihn auch dann noch quälen, wenn er längst wieder aus Tschetschenien zurückgekehrt ist, zu seiner Familie, zu seiner Arbeit, in sein Leben, das nie mehr so sein wird wie vorher. „Ab jetzt ist er der Mörder eines Kindes. Und er wird damit leben müssen …“
Arkadi Babtschenko kennt den Wahnsinn des Krieges aus eigener Erfahrung, Artjoms bitteres Fazit ist auch seines: „Aus dem ersten Tschetschenienkrieg bin ich eigentlich nicht zurückekehrt, bin verschollen auf den Feldern von Atschcha-Martan…“ Sein 2007 erschienener Bericht Die Farbe des Krieges wurde wegen seiner kraftvollen, lakonischen Sprache, seiner atemberaubenden Bildmächtigkeit gerühmt.
Auch Ein guter Ort zum Sterben, Babtschenkos neues Buch, das bei Rowohlt Berlin erschienen ist, erinnert in seiner Kompromisslosigkeit an Remarque, Hemingway, Isaak Babel. So wie er hat noch keiner die Schrecken des Krieges geschildert. Sein Bericht über den Tschetschenien-Krieg ist ungeheuerlich: Bilder aus einer Welt, von deren Existenz wir, die TV-Konsumenten, von Krieg und Zerstörung, keine Vorstellung haben. Ein Bericht aus der Hölle auf Erden, eine finstere Revue der Ungeheuerlichkeiten, die Menschen Menschen antun können.
Arkadi Babtschenko, 1977 in Moskau geboren, wurde mit achtzehn Jahren zum Militärdienst einberufen und 1996 nach Tschtschenien versetzt. Anschließend studierte er in Moskau Jura und schrieb für verschiedene Zeitungen. 2001 wurde sein Zyklus Zehn Bilder vom Krieg mit dem Preis der literarischen Zeitschrift „Debüt“ ausgezeichnet. Heute lebt Babtschenko als freier Journalist und Autor in Moskau.
(JK 06/09)
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