Der Esstisch der vielköpfigen sephardischen Familie im kolumbianischen Medellin ist sozusagen der Nabel der Welt. Hier wird verhandelt, was wichtig ist im Leben. Und wie schon in seinem Roman Das meschuggene Jahr berichtet der 13-jährige Erzähler die Dinge in Memo Anjels neuem Buch Mindeles Liebe so, wie er sie sieht. Von der Liebe wissen die Kinder wenig. Die Eltern gehören einfach zusammen, man kennt das – nie hätte man dafür ein so seltsames Wort wie Liebe verwendet. Nur die vorwitzige und superschlaue Victoria, die schon alle Bücher in ihrer Reichweite gelesen hat, weiß, was Liebe ist, weil sie schon einmal einen Verehrer gehabt hat: Liebe sei, erklärt sie ihren Geschwistern, einen Schwachkopf mit Pickeln im Gesciht vor sich zu haben.
Doch dann bricht wirklich die Liebe aus – eine Liebe, die nicht sein darf: die stille Liebe zwischen Mindele und Chaim. Sie verändert Personen, die man zu kennnen geglaubt hatte, bringt die ohnehin chaotische Welt der jüdischen Gemeinde im Stadtteil Prado durcheinander und stellt die Familie vor eine Zerreißprobe.
Mit eindringlicher und von feinem Humor geprägten Erzählweise entführt uns Memo Anjel – seinem Vorbild Isaac B. Singer sehr nah kommend – in den Mikrokosmos einer faszinierenden jüdischen Lebenswelt, deren liebevoll gezeichneten Figuren dem Leser unvergesslich bleiben. Die Geschichte spielt im kolumbianischen Medellín und dieses Buch handelt nicht von den Stereotypen Drogenkartellen, Straßenkinder, Entführungen oder Todesschwadronen. Das ist das erfrischende an einem solchen Buch und an Memo Anjel. Es gibt für die Menschen in Medellín eben auch ein anderes Leben und das lernt der Leser mit Memo Anjels Geschichten kennen und lebt mit der Geschichte der Familie mit.
José Guillermo (Memo) Anjel stammt aus einer sephardischen Familie. Er wurde 1954 in Medellín (Kolumbien) geboren, wo er auch heute wieder lebt. Er ist Hochschuldozent für Soziale Kommunikation und Journalist. Er veröffentlichte Romane, Erzählungen, Essays und Comics. Mindeles Liebe ist die Fortsetzung von dem 2005 ebenfalls im Rotpunktverlag erschienenen Roman Das meschuggene Jahr. 2005 lebte Memo Anjel übrigens als Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD für ein Jahr in Berlin.
(JK 06/09)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen