Mo Yans neuer Roman Der Überdruss, der bei Horlemann erschienen ist, beginnt am 1. Januar 1950 in der Hölle. Kurz zuvor ist durch Mao Tsetungs Landreformbewegung die traditionelle Ordnung des ländlichen China abgeschafft worden. Zwei Jahre lang hat Fürst Yama, der Herrscher der Unterwelt, den Grundbesitzer Ximen Nao jeder möglichen Folter unterworfen, um ihn zu zwingen, die Anklagepunkte zu akzeptieren, die zu dessen Hinrichtung durch die Kleinbauern führten. Aber Ximen Nao beteuert hartnäckig seine Unschuld. Widerwillig lenkt Yama schließlich ein und erlaubt Ximen, auf die Erde zu seinem früheren Besitz im verarmten Shandong zurückzukehren. Aber als dieser dort ankommt, findet er zu seiner Enttäuschung heraus, dass er nicht als Mann wiedergeboren wurde, sondern als Esel. Mit den Augen des Tieres verfolgt er nun das Schicksal seiner früheren Familie, seiner Freunde, Rivalen und Feinde. Weitere Wiedergeburten lassen ihn zu einem Stier, einem Schwein, einem Hund und einem Affen werden und schließlich zu einem Jungen mit großem Kopf, der ein verblüffendes Gedächtnis und ein Talent für Sprachen hat.
Mo Yan erzählt in seinem Roman Der Überdruss die letzten 50 Jahre der stürmischen und gewalttätigen Geschichte Chinas, vom großen Sprung über die Kulturrevolution bis zur Wiederauferstehung des zügellosen Kapitalismus. Sarkastisch, wortgewaltig und mit der Waffe des schwarzen Humors erzählt die Figur des Ximen Naos die Veränderungen aus tierischer Perspektive. In unvergleichlich kühler und mitunter distanzierter Art wagt es das Parteimitglied Mo Yan Gesellschaftskritik zu üben und bleibt tatsächlich von der Zensur unbehelligt. Mo Yan bekennt sich übrigens als Verehrer des großen kolumbianischen Schriftstellers Garcia Marquez. zum magischen Realismus Lateinamerikas und findet dabei seine eigene chinesische Interpretation dieses märchenhaften Stiles.
Mo Yan (was so viel heißt wie „keine Sprache“) ist das Pseudonym von Guan Moye. Er wurde 1956 in Gaomi in der Provinz Shandong geboren und entstammt einer bäuerlichen Familie. Seine Bücher wurden mit zahlreichen bedeutenden Literaturpreisen ausgezeichnet. Spätestens seit Zhang Yimous preisgekrönter Verfilmung seines Romans Das rote Kornfeld gilt Mo Yan auch international als einer der wichtigsten und erfolgreichsten Autoren der chinesischen Gegenwartsliteratur.
(JK 10/09)
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