Thomas Reverdy: Die Verflüchtigten (Berlin Verlag)

Kann man seine Vergangenheit einfach abstreifen? Ein neues Lebens beginnen? Der Roman Die Verflüchtigten des französischen Autors Thomas Reverdy, erschienen im Berlinverlag, geht in seinem Kern dieser existentiellen Frage nach und ist nur auf den ersten Blick ein Krimi oder eine Liebesgeschichte.

Sich in Luft auflösen, das ist in Japan ein gängiger Weg, der Familie große Schande zu ersparen. Kaze hat sein Gesicht verloren, weil er, der treue Angestellte einer großen Investmentbank plötzlich fristlos entlassen wurde. Mit einem Koffer und drei Pappkartons verschwindet er nachts nach San'ya, das verlorene Viertel Tokios. Dort regiert mit äußerster Brutalität die japanische Mafia. Und dort kreuzt sein Weg den von Akainu, einen Jungen, den der GAU von Fukushima zum Straßenkind gemacht hat. Vor der Bedrohung durch die Yakuza fliehen die beiden weiter nach Norden, zu den Landschaften der Verwüstung, auch um Akainus Familie zu suchen. In San Francisco hat derweil Kazes Tochter beschlossen, den Vater aufzuspüren und bittet ihren Exfreund Richard B. um Hilfe. Der ist Privatdetektiv, Gelegenheitsdichter, Reisehasser und vor allem immer noch unsterblich verliebt in die schöne Yukiko und ihr rätselhaftes Land. Gemeinsam machen sie sich auf den Weg.

Thomas Reverdy bezieht sich auf den vom Surrealisten André Breton beschworenen objektiven Zufall, dieser Zufall, der nichts dem Zufall überlässt, die Stadt ist sein Lieblingsort. Von einem Viertel zum nächsten, von einem Tempel zu einem Restaurant, von einer überfüllten Allee zum Labyrinth der U-Bahn tasten sich die Menschen heran, treffen sich zufällig, wechseln ein paar Worte, einen Blick, bevor sie wieder im Strom der Zeit dahinschwinden. Thomas Reverdy beschreibt poetisch mäandernde Lebenswege, die an einer Ecke einer Straße in Tokyo abbiegen können und sich vielleicht in einer kalt beleuchteten Allee in San Francisco wiederfinden. In der Stadt wie in der Liebe kann man nicht gegen die Wahrscheinlichkeit ankämpfen, dass ein Wunder geschehen könnte, meint der Autor.

Thomas B. Reverdy wurde 1974 geboren, durchlebte, nach eigener Auskunft, eine glückliche Kindheit inklusive humanistischer, aufklärerisch geprägter Erziehung und arbeitet heute als Lehrer in Seine-Saint-Denis. Reverdy lebt in Paris und ist Autor von sechs Romanen.

Die Verflüchtigten von Thomas Reverdy ist im Berlin Verlag erschienen. 
 (JK 05/16)

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