Literaturhaus
Mittwoch, 10.05.2017
19.30 Uhr
Schwanenwik 38, Hamburg
Eintritt: 10 / 14 Euro
Tagebuch, Essay und Kommentar,
philosophische Analyse, geisteswissenschaftlicher Verweis und eine große
erzählerische Fantasie, all das fließt in der Prosa von Claudio Magris
zusammen. In seiner Heimat steht der weltbekannte und vielfach ausgezeichnete
Triestiner Germanist und Schriftsteller im Ruf der „kosmopolitischste
Provinzler Italiens“ zu sein, weil er stets die Relativität von Nähe und
Entfernung betont. Ausgehend von einem Mikrokosmos der Gewalt, einer
irrsinnigen „Ausrüstung des Todes“, vermisst er in seinem neuen Roman Verfahren
eingestellt, der in diesem Frühjahr im Carl Hanser Verlag erschienen ist, nicht
nur den Krieg und seine Grausamkeit in allen nur denkbaren Facetten, sondern
auch „die Liebe und die Migräne“. Im Literaturhaus stellt Claudia Magris seinen
Roman zusammen mit dem Schauspieler Stephan Benson vor, Joachim Dicks
moderiert.
Professor
Diego de Henriquez schläft in einem Sarg mit einer Pickelhaube auf dem Kopf,
umgeben von Kriegsgeräten in einem Schuppen. Sein großer Traum ist ein Museum,
das der Dokumentation des Krieges dienen soll, „um den Frieden zu preisen“, für
dieses Ideal, seine große Mission, opfert er ein Vermögen und sein ganzes
Leben. Am 2. Mai 1972 kommt er bei einem Brand in seinem Schuppen ums Leben,
die mysteriösen Umstände seines Todes bleiben ungeklärt, sein Lebenswerk erfüllt
sich jedoch: 2014 eröffnet in Triest das „Kriegsmuseum für den Frieden Diego de
Henriquez“. Die Sammlung umfasst 15.000 inventarisierte Ausstellungsstücke,
darunter Waffen, Fotografien, Tagebücher, Plakate, Landkarten und vieles mehr.
Das ist der reale Ausgangspunkt für die im Roman, wie Claudio Magris anmerkt,
„völlig frei erfundene“ Figur und Geschichte des Diego de Henriquez. In einem
Erzählstrang, der sich aus 53 zum Teil sehr kurzen Kapiteln zusammensetzt,
erfahren wir vom Labyrinth der Manien des irrsinnigen Sammlers und besichtigen
Kanonen, Panzer, U-Boote, Jeeps und Raketenabschussrampen in den Sälen seines
Museums. Das Waffenarsenal selbst würde sich dabei als erzählerischer Horizont
jedoch genauso schnell erschöpfen, wie die groteske Obsession ihres Sammlers,
der nicht wahllos „Granatsplitter, verbeulte Blechnäpfe, Feldabzeichen,
zerquetschte Kompasse“ und „Zünder“ zusammentrug, sondern die Geschichten dazu
notierte. Sie erzählen vom Schicksal des Ivo Saganic, Leutnant zur See, den
seine Frau betrogen hat und vom unsicheren Helden Schimek, vom „grimmigen Krieg
um die Liebe“, den ein Familienvater mit seinem letzten „dumpfen Röcheln“
verliert, von „Pflanzenkämpfen“ und von einer „kleinen Bibliothek der
Sexualität“. Ein Fresko aus Notizen, das verschiedenste Zeiten, Orte und
Menschen zusammenführt.
Transkribiert
werden all diese Geschichten von Luisa, die vom kommunalen Kulturamt von Triest
damit beauftragt wird, Ordnung in das Chaos zu bringen, das der Sammler
hinterlassen hat. Ihrer Geschichte widmet sich schließlich ein zweiter
Erzählstrang, der den Roman erst als solchen zusammenhält. Lisa, die Tochter
einer Jüdin und eines afroamerikanischen Leutnants, ist Nachfahrin von Diaspora
und Sklavenhandel zugleich. Und Tochter einer Mutter, die an Migräne leidet,
seit sie vom Schicksal ihrer Mutter erfahren hat. Luisas Großmutter Deborah
bringt ihre Tochter bei einem ehemaligen Dienstmädchen am Meer vor den
Deutschen in Sicherheit, wo sie glückliche Kindheitsjahre erlebt. Erst später
erfährt sie vom Konzentrationslager Risiera di San Sabba in Triest, genau
gegenüber jener Bucht, in der sie so gerne zum Baden ging, dort hat man
vielleicht auch ihre Mutter umgebracht. Seitdem sie davon weiß, meidet sie das
Meer. Luisa wird während ihrer Arbeit am „Kriegsmuseum für den Frieden“ von der
Geschichte eingeholt, denn Diego de Henriquez war von der Risiera di San Sabba
magisch angezogen. Hier spekuliert der Roman mit einer dunklen Episode der
Triester Stadtgeschichte: Die Häftlinge in der Risiera hatten Namen von
Denunzianten und Komplizen an die Wände des Lagers geschrieben, die sofort nach
dem Krieg übertüncht wurden. Ist Diego de Henriquez tatsächlich an eine Liste
der Namen gekommen? Bis heute ist die Vermutung nicht ausgeräumt, er könnte
deswegen ermordet worden sein.
Mit
seinem vielschichtigen Roman eröffnet Claudio Magris das Verfahren um Wahrheit,
Schuld und Sühne neu, ausgefochten wird es von einer großen Frauenfigur, die in
diesem mächtigen Epos ein Museum für Tausend und eine Nacht des Bösen
arrangiert, in dem sie den ganzen Reichtum der grausamen Abgründe vor uns
ausbreitet. Und dennoch findet sie auch Hoffnung: „(…) vielleicht war es nicht
unmöglich, glücklich zu sein, auch wenn es so schwer war, daran zu glauben;
nicht nur in den Märchen findet man den verlorenen Schlüssel wieder, den
plötzlich irgendein verzauberter Vogel nach Hause zurückbringt.“
Verfahren
eingestellt von Claudio Magris ist bei Hanser erschienen.
(JK 05/17)
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