In seinem neuen Roman Alles,
was ich nicht erinnere, der bei DVA erschienen ist, fragt sich der
schwedisch-tunesische Autor Jonas Hassen Khemiri, welchen Preis wir zahlen, um
nicht allein zu sein?
Samuel hat so viele
Gesichter, wie ihn Menschen kennen. Nun lebt er nur noch in der Erinnerung
aller, und jeder erinnert sich anders an diesen schmächtigen jungen Mann, der
ein fürsorglicher Enkel, großzügiger Freund und hingebungsvoller Liebhaber war
– bis zu jenem Tag, an dem er den alten Opel seiner Großmutter in voller Fahrt
gegen einen Baum lenkt. War es ein Unfall oder Selbstmord? Die einen sagen,
dass Samuel sich hat rächen wollen an seiner großen Liebe Laide, die sich nun
immer an ihn erinnern muss. Die anderen sagen, dass das alles nie passiert
wäre, hätte sich Samuels bester Freund, der geldgierige Vandad, nicht
eingemischt. Was nur ist tatsächlich passiert?
Der Roman ist eine
Liebesgeschichte, erzählt von Freundschaft und ist gleichzeitig eine scharfe
Diagnose der heutigen Gesellschaft Schwedens, wo der Wert des Individuums zu
oft von wirtschaftlichen Faktoren abhängt. Das Talent des abwesenden aber
allgegenwärtigen Samuel ist, dass er sich zwischen den sozialen Klassen bewegt,
er bewegt sich zwischen unterschiedlichen Umgebungen, mal verspielt, mal
verwundbar, immer beliebt, aber auch immer ein bisschen außerhalb. Dramaturgisch
wächst die Geschichte stetig, die ersten zitternden Stimmen wachsen zu einem
starken Chor. Alles, was ich nicht erinnere ist eine stürmisch-schöne
Geschichte von Traurigkeit, nicht nur über all unsere verlorenen Menschen,
sondern eine Traurigkeit, die so groß und unverständlich ist, dass sie alles um
uns herum erfasst. Schließlich verstehen wir, dass der Autor selbst gar nicht
primär daran interessiert ist, zu verstehen, was mit Samuel passiert ist,
sondern daran, seine eigene persönliche Trauer zu verarbeiten und die
Geschichte als Spiegel für seine eigene Geschichte verwendet.
Jonas Hassen Khemiri
wurde 1978 als Sohn eines tunesischen Vaters und einer schwedischen Mutter in
Stockholm geboren. Sein 2003 erschienener erster Roman Das Kamel ohne Höcker,
in dem er die Entwicklung eines Jungen mit Migrationshintergrund beschreibt,
war ein großer Erfolg in Schweden und erhielt mehrere Literaturpreise, vor
allem wegen seines ungewöhnlichen Umgangs mit einer echten und einer erfundenen
Umgangssprache. Sein zweiter Roman Montecore, ein Tiger auf zwei Beinen
erschien 2006 und war für den wichtigsten schwedischen Literaturpreis, den August-Preis,
nominiert; ausgezeichnet wurde er 2008 mit dem Romanpreis des Schwedischen
Radios. Khemiri hat eine Reihe von Theaterstücken verfasst, die auch auf den
deutschsprachigen Bühnen gespielt werden, darunter Invasion! und Ich
rufe meine Brüder an. Khemiri ist u.a. Preisträger des
Per-Olov-Enquist-Preises und verbrachte mit dem dazugehörigen Stipendium ein
Jahr in Berlin. Jonas Hassen Khemiri lebt mit seiner Familie in Stockholm.
Alles, was ich nicht erinnere von Jonas Hassen Khemiri ist bei
DVA erschienen.
(JK 06/17)
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