Literaturhaus
Dienstag 14.11.2017 19.30 Uhr
Schwanenwik 38, Hamburg
Eintritt: 10 Euro
Bei einer Heimat-Show im Literaturhaus
stellen Katrin Seddig, Henning Ahrens und Alina Herbing ihre Dorfromane vor;
der Journalist und Autor Hasnain Kazim spricht über Grünkohl und Curry. Christoph
Bungartz moderiert.
Es gibt sie als Wort in
Verbindung mit der Scholle und dem Land, dem Dorf und der Stadt, dem Recht und
dem Boden, dem Stolz und dem Schutz, der Liebe, dem Film, dem Roman. Und in
Bayern, wo man ein besonders inniges Verhältnis zur Heimat pflegt, gibt es sogar
einen Heimatminister, der für „Landesentwicklung und Breitbandausbau“ zuständig
ist. In keiner anderen Sprache ist Heimat mit so viel Sinn aufgeladen wie im
Deutschen, und es boomt weiter ungebrochen, was immer sich rund um Heimat und
Herkunft schart. Auch in der deutschen Gegenwartsliteratur werden zentrale
gesellschaftliche Probleme seit Jahren bevorzugt in Provinz- und Dorfromanen
durchbuchstabiert.
„Wir lieben dieses Land.
Das ist unsere Heimat. Diese Heimat spaltet man nicht. Für diese Heimat werden
wir kämpfen.“ Die Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt hat sich mit
ihrem patriotischen Bekenntnis zur Heimat kurz nach den Bundestagswahlen viel
Widerspruch aus der eigenen Partei eingehandelt, befindet sich aber in bester
Gesellschaft. Ob Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier oder einfache
Abgeordnete aller Fraktionen, übereifrig wird in der Politik die „Sehnsucht
nach Heimat“ beschworen, nach Verortung, nach Geborgenheit und Vertrautheit.
Trachten-, Schützen- und Heimatvereine, Dialekte, Waldblütenhonig und Omas
Pflaumenkuchen, all das formiert sich derzeit zu einer großen Anrufung von
Heimatverbundenheit und Verwurzelung und ist doch nur eine Inszenierung, die
vor allem von Großstädtern „gelikt“ wird. Wie es hinter der Kulisse aussieht,
erfährt man bei einer Heimat-Show mit Dorfgeschichten im Literaturhaus:
Für die Heldin von Niemand
ist bei den Kälbern, dem „hintergründigen Anti-Landlust-Roman“ (SZ) von
Alina Herbing, geht es um die Frage, wie sie den Absprung aus dem kleinen Dorf
Schattin in Nordwestmecklenburg schafft.
Hochsommer in Schattin, Gemeinde Nordwestmecklenburg. Christin ist
gerade auf den Bauernhof ihres langjährigen Freundes Jan gezogen. Die
Aufbruchstimmung der Nachwendejahre, die ihre Kindheit prägte, ist längst
dahin, doch für Jan ist der väterliche Betrieb trotz sinkender Milchpreise noch
immer das Wichtigste im Leben. Christin hingegen will nur weg. Sie träumt von
der Großstadt und einem Job im Büro. Aber wo soll sie hin ohne Ausbildung? Es
bleiben die immer gleichen Dorffeste, die immer gleichen Freunde, der
arbeitslose Vater und der Kirschlikör aus dem Konsum. Als Windkrafttechniker
Klaus aus Hamburg auftaucht, sieht Christin einen Ausweg aus ihrem bisherigen
Leben.
Alina Herbing, aufgewachsen in Mecklenburg, zeichnet eine ehrliche,
unromantische Milieustudie über das Landleben und eine gescheiterte
Wende-Generation. Niemand ist bei den Kälbern ist ein Roman über Grenzen und
Grenzüberschreitungen, über Landflucht und prekäre Umfelder, über das Leben
zwischen Ost und West, gestern und heute, Existenzangst und die Sehnsucht nach
Freiheit.
Alina Herbing, geboren 1984 in Lübeck, aufgewachsen in
Mecklenburg-Vorpommern, lebt heute in Berlin. Sie studierte Germanistik und
Geschichte in Greifswald, Neuere deutschsprachige Literatur in Berlin sowie
Kreatives Schreiben, Kulturjournalismus und Literarisches Schreiben in
Hildesheim. Sie war u.a. Teilnehmerin des open mike 2012 sowie des Klagenfurter
Literaturkurses 2014.
Niemand ist bei den Kälbern von Alina
Herbing ist bei Arche erschienen.
Auch in Das Dorf,
dem neuen Roman von Katrin Seddig, plant die junge Heldin „in die großen Städte
zu gehen, in fremde Länder“, obwohl sie vorher noch eine Weile „in den Himmel
gucken und die Mücken tanzen sehen, die Pappeln rauschen hören“ will. Katrin
Seddig erzählt so wundervoll ironisch und sinnlich von der kleinen Dorfwelt,
dass man die dunklen Abgründe aus Ausbeutung, Gier und Sex, in die ihre
Bewohner verstrickt sind, fast schon als Normalmodus idyllischen Landlebens und
ihrer kulturellen Auswüchse hinnimmt.
Der Sommer verspricht
schön und langweilig zu werden. Anfangs widerstrebend, dann immer öfter nimmt
der siebzehnjährige Maik die erst zwölfjährige Jenny auf seinen Mopedtouren
mit; schließlich sind sie die einzigen Jüngeren in ihrem norddeutschen Dorf.
Von der Zukunft wissen sie nur eins: So wie die Erwachsenen wollen sie nicht
leben, in der kleinen Welt, in der niemand mit sich im Reinen ist – nicht
Jennys unzufriedene Mutter, nicht der seltsame Geschäftsmann mit seiner
Familie, auch nicht die schöne Verrückte, die alle «die Nackte» nennen. Doch
dann entdecken die beiden, dass Jennys Mutter eine Affäre mit dem Großbauern
hat, dessen Stieftochter, die Nackte, den Geschäftsmann ein bisschen näher
kennt – sie stoßen in ein Dickicht aus Lügen und Geheimnissen vor, sogar auf
ein Verbrechen.
Katrin Seddig, geboren
1969 in Strausberg, studierte Philosophie in Hamburg, wo sie auch heute mit
ihren beiden Kindern lebt. Über ihren Roman Runterkommen (2010) schrieb
die taz: „Ein brillantes Debüt ... Anrührend, witzig und nüchtern.“ 2012
erschien Eheroman, zu dem Der Tagesspiegel meinte: „Grandios, wie Katrin
Seddig jeder ihrer Figuren einen eigenen Ton verleiht“ Für ihre Erzählungen
erhielt Katrin Seddig 2008 und 2015 den Förderpreis für Literatur der
Hansestadt Hamburg.
Das Dorf von Katrin Seddig ist bei Rowohlt
Berlin erschienen.
Mit Henning Ahrens und
seinem in der Literaturkritik hymnisch gefeierten Roman Glantz und Gloria
geraten wir mit Rock Oldekop schließlich in ein niedersächsisches Provinznest.
Auf der Suche nach Herkunft und Identität schickt Ahrens den Landrückkehrer in
einen wahnwitzigen, dunkeldeutschen Albtraum.
Rock Oldekop kehrt nach
Glantz im Düster, in seine alte Heimat zurück, um herauszufinden, was sich
wirklich zugetragen hat, damals, in der Nacht, als seine Eltern bei einem Brand
umkamen. Tiefer und tiefer gerät er in einen wahnwitzigen rasenden Albtraum.
Fürchterlich und barbarisch geht es zu in diesem fiktiven Mittelgebirge.
Radikal phantastisch, mit einer zärtlichen Absolutheit und virtuosen Wucht
erzählt Henning Ahrens von der Suche nach der Herkunft, einer Identität, einer
Lebensgeschichte.
Henning Ahrens lebt als
Schriftsteller und Übersetzer in Frankfurt am Main. Er veröffentlichte die
Lyrikbände Stoppelbrand, Lieblied was kommt und Kein Schlaf in
Sicht sowie die Romane Lauf Jäger lauf, Langsamer Walzer und Tiertage.
Für Glantz und Gloria. Ein Trip erhielt er 2015 den Bremer
Literaturpreis.
Glantz und Gloria von Henning
Ahrens ist bei S. Fischer erschienen.
Eine ganz andere
Perspektive auf das Landleben hat der SPIEGEL-Journalist Hasnain Kazim. Der
1974 in Oldenburg geborene Sohn pakistanisch-indischer Eltern ist in Hollen-Twielenfleth
im Alten Land aufgewachsen. Zur Heimat-Show erzählt er von Grünkohl
und Curry, die bewegende
Geschichte einer geglückten Integration.
Auf
dem Dachboden seiner Eltern findet Hasnain Kazim, Sohn indisch-pakistanischer
Einwanderer, eine Kiste mit Papieren, die ein Tor zu seiner Vergangenheit
öffnen: Dokumente, die belegen, dass seine Familie in den 80er-Jahren mehrmals
kurz davor stand, aus Deutschland ausgewiesen zu werden. Kazim geht dieser
Familiengeschichte nach, erzählt, wie seine Eltern nach Deutschland kamen und
warum sie ausgerechnet in einem Dorf bei Hamburg, das alles andere als ihr
Traumziel war, heimisch werden. Den Schikanen der Ausländerbehörden steht die
Hilfsbereitschaft der Dorfbewohner gegenüber, die der muslimischen Familie, wo
immer möglich, den Rücken stärken. Was im täglichen Leben rasch gelingt – die
Integration – wird erst nach 16 Jahren offiziell: Die Familie erhält die
deutsche Staatsbürgerschaft. Es ist ein Bogen von Dorf zu Dorf, von Lakhimpur
am Fuße des Himalaya nach Hollern-Twielenfleth im alten Land, von Indien nach
Deutschland. Und es ist eine Geschichte von kulturellen Unterschieden und
Gemeinsamkeiten, über geglückte Integration, Liebe und Freundschaft.
Hasnain
Kazim wurde 1974 im niedersächsischen Oldenburg geboren und wuchs in dem Dorf
Hollern-Twielenfleth im Alten Land, vor den Toren Hamburgs, sowie in Karatschi,
Pakistan, auf. Er studierte Politikwissenschaft und schrieb unter anderem für
die Heilbronner Stimme und die Nachrichtenagentur dpa. Ab 2006 war er Redakteur
von SPIEGEL ONLINE in Hamburg, ab 2009 Südasienkorrespondent von SPIEGEL ONLINE
und SPIEGEL in Islamabad. Von 2013 bis Anfang 2016 berichtete er als
Türkei-Korrespondent aus Istanbul. Da ihm die türkischen Behörden die weitere
Presse-Akkreditierung verweigerten, musste er das Land im März 2016 verlassen.
(JK 11/17)
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