Flandern und die Niederlande –
Ehrengast 2016 der Frankfurter Buchmesse
Knallgelb ist das
Staubtuch, das Tante Tiny stets mit sich führt, um es bei Bedarf blitzschnell
und ungeniert zu zücken – gern auch, wenn sie bei anderen zu Gast ist. Tientje
Putz nennt man sie in der Familie, vorsichtshalber jedoch nur hinter ihrem
Rücken. Denn so weich ihr Staubtuch ist, so scharf und verletzend kann ihre
Zunge sein, mit der sie über Leichen geht. Ihr Neffe Albert Egberts – den wir
aus van der Heijdens schon fast sagenhaftem Zyklus Die zahnlose Zeit
kennen – verfolgt das Treiben seiner jungen, attraktiven Tante aus nächster
Nähe, befremdet und gleichzeitig
fasziniert. Es dauert Jahre, bis er entdeckt, was sie ein Leben lang
antreibt, was in stillschweigender familiärer Übereinkunft geheim gehalten
wird.
Adrianus Franciscus
Theodorus van der Heijden wurde am 15. Oktober 1951 in der Nähe von Eindhoven
geboren. Er übersiedelte nach dem Abitur (1969) und einem abgebrochenen
Psychologiestudium nach Amsterdam, wo er mit Unterbrechungen bis heute lebt. 1979
debütierte er mit dem Erzählungsband Eine Gondel in der Herrengracht. Adri
van der Heijden ist der wichtigste Schriftsteller und durch seine
weitgespannten, raffiniert konstruierten, spannend-realistischen Romane zum
Chronisten der Nachkriegszeit in den Niederlanden geworden. In seiner Literatur
wird für alle nachvollziehbar die Zeit von 1945 bis zum Ende des 20.
Jahrhunderts lebendig.
Auch in Deutschland gilt
er als überragender Erzähler, als „der wohl sprachmächtigste Dichter, den die
Niederlande augenblicklich besitzen, der mit Sicherheit sinnlichste, der nun
seit fast zwanzig Jahren stampfend, dampfend den Weg vom Himmel durch die Welt
der Kloake ausmistet und ausmisst, ein Saft- und Kraftgenie, wie Holland es
seit dem Barock nicht mehr hatte“. (Der Tagesspiegel)
Diese Anerkennung
verdankt sich den Romanen Die Schlacht um die Blaubrücke (deutsch 2001),
Fallende Eltern (deutsch 1997), Der Anwalt der Hähne (deutsch
1995), Das Gefahrendreieck (deutsch 2000), Der Widerborst (deutsch
1993), Der Gerichtshof der Barmherzigkeit (deutsch 2003) sowie Unterm
Pflaster der Sumpf (deutsch 2003). Der Autor fasste den Zyklus unter dem
Titel Die zahnlose Zeit zusammen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts
eröffnete van der Heijden mit Die Movo-Tapes (deutsch 2007) eine neue
Romanreihe. „Der lang erwartete Auftakt zu van der Heijdens neuem Zyklus.
Völker, macht Platz in den Regalen!“ (Elmar Krekeler, Die Welt) 2007 erschien
auf Deutsch die „transatlantische Tragödie“ Das Scherbengericht. Am
Pfingstsonntag 2010 starb das einzige Kind van der Heijdens und seiner Frau
Mirjam nach einem Verkehrsunfall. In dem 2011 auf Niederländisch und Deutsch
erschienen „Requiemroman“ Tonio setzt er seinem Sohn ein
herzzerreißendes Denkmal: Ein Roman, der belegt: angesichts des Todes ist
Literatur überlebensnotwendig. Das Werk A. F. Th. van der Heijdens wurde
vielfach ausgezeichnet; genauso wie Helga van Beuningen für ihre überragenden
Übersetzungen dieses Werks.
Das Biest von A. F. Th. van der Heijden ist
bei Suhrkamp erschienen.
(JK 10/16)
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