Friedrich Ani: Letzte Ehre (Suhrkamp)

Einen packenden, schmerzhaften und düsteren Roman hat Friedrich Ani mit seinem Buch Letzte Ehre geschrieben, das bei Suhrkamp erschienen ist.

Die siebzehnjährige Finja Madsen ist nach einer Party nicht nach Hause gekommen. Es gibt keine Zeugen, keine äußeren Anhaltspunkte dafür, was mit ihr passiert ist. Die Ermittlungen stecken fest. Oberkommissarin Fariza Nasri vernimmt Personen aus dem Umfeld der Vermissten, darunter auch den Freund der Mutter, Stephan Barig. In dessen Haus hat die Party stattgefunden, während er das Wochenende mit zwei Bekannten auf dem Land verbrachte. Barig gibt gewissenhaft Auskunft. Nasri hört zu, stellt Fragen – und ist sich mit einem Mal sicher, dass der Mann lügt. Doch hat er wirklich etwas mit dem Verschwinden der jungen Finja zu tun, oder verbirgt er etwas ganz Anderes? Die Suche nach einem verschwundenen Mädchen wird mehr und mehr zu einem Horrortrip durch die Abgründe männlicher Machtfantasien und die Verwüstungen, die sie hinterlassen. Fariza Nasri gerät in einen Strudel der Gewalt, der sie immer weiter mitreißt, bis sie darin zu ertrinken droht.

Friedrich Ani hat wieder einen vielschichtigen Roman geschrieben, der nicht den typischen Krimistrukturen folgt. Mit Spannung und Intensität und auf sprachlich wieder beeindruckend hohem Niveau treibt Ani die düstere Geschichte über Kindesmissbrauch, männliche Gewalt und sexuelle Ausbeutung voran. Psychologisch tiefsinnig und raffiniert geschrieben, folgt man als Leser*in atemlos Friedrich Anis Geschichte.

Friedrich Ani, geboren 1959, lebt in München. Er schreibt Romane, Gedichte, Jugendbücher, Hörspiele, Theaterstücke und Drehbücher. Sein Werk wurde mehrfach übersetzt und vielfach prämiert, u. a. mit dem Deutschen Krimi Preis, dem Adolf-Grimme-Preis und dem Bayerischen Fernsehpreis. Seine Romane um den Vermisstenfahnder Tabor Süden machten ihn zu einem der bekanntesten deutschsprachigen Kriminalschriftsteller. Friedrich Ani ist Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und des Internationalen PEN-Clubs. Sein Roman Der namenlose Tag wurde 2015 mit dem Deutschen Krimi Preis und dem Stuttgarter Krimipreis ausgezeichnet.

Letzte Ehre von Friedrich Ani ist bei Suhrkamp erschienen.
(JK 07/21)

Patricio Pron: Morgen haben wir andere Namen (Rowohlt)

Im neuen Roman Morgen haben wir andere Namen von Patricio Pron, erschienen bei Rowohlt, kämpfen eine Frau und ein Mann in Madrid um die Liebe.

Sie ist erfolgreiche Architektin, er freier Schriftsteller, der mit dem Nötigsten auskommt. Im Freundeskreis galten sie jahrelang als das perfekte Paar. Doch die Technologie bestimmt immer stärker ihren Alltag, bis hin zu den intimsten Momenten. Ständig müssen Nachrichten verschickt oder beantwortet werden. Videochats auf dem Tablet ersetzen das Gespräch zu zweit. Die beiden nehmen einander gar nicht mehr richtig wahr und schlittern in eine Krise.

Patricio Pron lässt abwechselnd von ihr und von ihm erzählen. Dabei entsteht eine zweistimmige, durchaus oft widersprüchliche Analyse des Wandels von Bedürfnissen – in einer unaufhaltsam virtueller werdenden Umgebung und in einer Stadt, die sich täglich neu definiert. Er hat eine intelligente, vielschichtige Liebesgeschichte geschrieben, die zu keiner Zeit kitschig ist und zeichnet dabei das Bild einer neurotischen Großstadtgesellschaft. Die Sprünge zwischen den Perspektiven und Zeitebenen, über unerfüllte Sehnsüchte, permanentes Verlangen und großem Schmerz erfordern von den Leser*innen beim Lesen Aufmerksamkeit.

Patricio Pron erhielt für seinen hochaktuellen dritten Roman den bedeutendsten Literaturpreis Spaniens, den Premio Alfaguara de novela. In der Begründung der Jury heißt es: „In einer klaren, schonungslosen Sprache reflektiert Pron unsere Zeit und erforscht neue Formen von Gefühlen.“

Patricio Pron wurde 1975 in Rosario, Argentinien, geboren, hat in Göttingen in Romanistik promoviert und lebt heute in Madrid. 2010 wurde er in die spanische Ausgabe der „Granta“-Anthologie aufgenommen, unter die 20 besten spanischsprachigen Autoren unter 40 gewählt.

Morgen haben wir andere Namen von Patricio Pron ist bei Rowohlt erschienen.
(JK 07/21)

Sadie Jones: Die Skrupellosen (Penguin)

Familiengeheimnisse können tödlich sein: Mit feinem Gespür erzählt Sadie Jones in ihrem neuen Roman Die Skrupellosen, der bei Penguin erschienen ist, davon, wie schwer es ist, den Verlockungen des Geldes zu widerstehen.

Dan ahnt nicht, wie millionenschwer die Familie seiner Frau Bea ist. Das junge Paar lebt bescheiden in einem kleinen Apartment in London. Um der Enge zu entfliehen, nehmen sich die beiden eine Auszeit. Ihre Reise durch Europa führt sie zuerst zu Beas Bruder nach Burgund. Gerade bei Alex angekommen, kündigen sich zu Beas Entsetzen die Eltern Adamson zu einem Überraschungsbesuch an. Plötzlich wird Dan klar, dass er ein ganz anderes Leben führen könnte – warum nur distanziert sich Bea so sehr von ihrer Familie und deren Reichtum? Als ein Mord geschieht, bricht das jahrelange Schweigen auf, und weder Bea noch Dan können der Wahrheit mit ihren furchtbaren Konsequenzen entfliehen…

Die Skrupellosen ist ihr Sadie Jones‘ fünfter Roman. Am Anfang in ruhigem Tempo geschrieben gerät das Buch zu einem abgründigen psychologischen Roman über Gier und Moral und Entfremdung, über die Liebe und die Sehnsucht nach Glück. Sadie Jones ist in ihrem Element und lässt uns in die Tiefe unserer eigenen Abgründe blicken. Ein spannender Roman, der zynisch offenlegt, wie Geld und Macht den Menschen verändert.

Sadie Jones, 1967 in London geboren, arbeitete als Drehbuchautorin, unter anderem für die BBC. 2005 verfilmte John Irvin ihr Drehbuch The Fine Art of Love mit Jacqueline Bisset in der Hauptrolle. Ihr preisgekröntes Romandebüt Der Außenseiter aus dem Jahr 2008 wurde in Großbritannien auf Anhieb ein Nr.-1-Bestseller und war auch in Deutschland ein großer Presse- und Publikumserfolg.

Die Skrupellosen von Sadie Jones ist bei Penguin erschienen.
(JK 07/21)

Jean-Luc Bannalec: Bretonische Idylle (Kiepenheuer & Witsch)

Malerische Abgründe: In seinem 10. Fall ermittelt Kommissar Dupin auf der traumhaften Belle-Île: Bretonische Idylle lautet der Titel von Jean-Luc Bannalec, der bei Kiepenheuer & Witsch erschienen ist.

Die Hitzewelle hat in diesem August sogar die Bretagne fest im Griff. Keine Aussicht auf Abkühlung für Kommissar Dupin. Und zu allem Überfluss planen die Kollegen auch noch die große Feier seines zehnjährigen Dienstjubiläums. Doch dann wird eines Morgens an der Küste bei Concarneau ein Toter aus dem Meer gefischt, ein Schafzüchter von der legendären Belle-Île. Und ehe Dupin sich’s versieht, befindet er sich an Bord eines Schnellbootes auf dem Weg zur „schönsten Insel der Welt“, wo er schon bald auf tiefste menschliche Abgründe stößt…

Die Bücher der Kommissar Dupin-Reihe sind zugleich Krimi als auch alternative Reiseführer der Bretagne. Dieses Mal geht es auf die Belle-Île. Der Autor bleibt seinem Stil des Wohlfühl-Krimis treu. Keine rasante Actionszenen, dafür umso mehr Lokalkolorit. Auch mit diesem Band wird das Versprechen gehalten. Solide, unterhaltsame Story mit einer sympathischen Hauptfigur und der Bretagne als Star des Ensembles.

Jean-Luc Bannalec ist der Künstlername von Jörg Bong. Er ist in Frankfurt am Main und im südlichen Finistère zu Hause. Die ersten acht Bände der Krimireihe mit Kommissar Dupin wurden für das Fernsehen verfilmt und in zahlreiche Sprachen übersetzt. 2016 wurde der Autor von der Region Bretagne mit dem Titel „Mécène de Bretagne“ ausgezeichnet. Seit 2018 ist er Ehrenmitglied der Académie littéraire de Bretagne.

Bretonische Idylle von Jean-Luc Bannalec ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.
(JK 07/21)

Constantin Schreiber: Die Kandidatin (Hoffmann und Campe)

Ein Land am Abgrund. Eine Gesellschaft zwischen Hoffnung und Hass. Und eine muslimische Frau auf dem Weg zur Macht: Nach einer Reihe von Sachbüchern hat Constantin Schreiber seinen ersten Roman Die Kandidatin geschrieben, der bei Hoffmann und Campe erschienen ist.

Deutschland in ungefähr dreißig Jahren, kurz vor der nächsten Bundestagswahl. Die aussichtsreichste Kandidatin für den Posten an der Regierungsspitze ist Sabah Hussein. Feministin, Muslimin, Einwanderin, Mitglied der Ökologischen Partei. Aber nicht alle wollen sie gewinnen sehen und arbeiten mit allen Mitteln daran, Sabah Husseins Wahl zu vereiteln, während die Gesellschaft immer weiter auseinanderbricht.

Flüssig und spannend als Thriller erzählt breitet Constantin Schreiber seine Satire aus. Er greift die virulenten Themen der heutigen Zeit auf und zerrt sie ins Absurde. Doch sieht man heute schon gewisse Kreise insbesondere im rechten politischen Spektrum mit absurden Szenarien die Wahrheit zu verzerren und damit die Gesellschaft zu spalten. Das Ziel ist dann gar nicht so anders als die im Roman erzählte Realität. Also doch gar nicht so utopisch? An dem Roman kann man sich reiben.

Constantin Schreiber, geboren 1979, moderiert die Tagesschau und ist einer der besten Kenner der arabischen Welt. Für die deutsch-arabische Talkshow Marhaba – Ankommen in Deutschland, in der er Geflüchteten das Leben in unserem Land erklärt, wurde er 2016 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Mit seiner 2019 gegründeten Deutschen Toleranzstiftung setzt er sich für interkulturellen Austausch im In- und Ausland ein. Seine Bücher Inside Islam und Kinder des Koran waren Spiegel-Bestseller. 2016 erschien zuletzt Marhaba, Flüchtling! Schreiber lebt mit seiner Familie in Hamburg.

Die Kandidatin von Constantin Schreiber ist bei Hoffmann und Campe erschienen.
(JK 07/21)

Gianrico Carofiglio: Zeit der Schuld (Goldmann)

Ein neuer Fall für Avvocato Guido Guerrieri: Zeit der Schuld von Gianrico Carofiglio ist bei Goldmann erschienen.

In ihrer Jugend war Lorenza der Schwarm aller Männer: schön, klug und weltgewandt. Doch als sie dem italienischen Anwalt Guido Guerrieri eines späten Nachmittags in seinem Büro in Bari gegenübersteht, hat sie nichts mehr von der einst so faszinierenden Frau. Trotzdem ist er sofort bereit, Lorenzas Sohn Jacopo vor Gericht zu vertreten, der wegen Mordes im Gefängnis sitzt. Doch die Beweislage ist erdrückend, und bald muss sich Guerrieri fragen, ob sein nostalgisches Gefühl für seine Vergangenheit mit Lorenza nicht nur seine Urteilskraft beeinträchtigt, sondern auch seinen Ruf als Anwalt zerstören wird…

Wie gewohnt folgen wir wieder aufmerksam den Gedankengängen, Selbstgesprächen und philosophischen Ausflüge des Avvocato Guerrieri. Er setzt sich auseinander mit dem Älterwerden, den Erinnerungen an früher und die Liebe. Carofiglio zeigt das Dilemma auf, in das man geraten kann. Wie kann man zu seinen Werten über Anstand, Recht und Gerechtigkeit stehen, wenn das Persönliche plötzlich ins Spiel kommt und an seine Grenzen führt. Spannend und unterhaltsam ergründet der Avvocato Guerrieri seine Abgründe.

Gianrico Carofiglio wurde 1961 in Bari geboren und arbeitete in seiner Heimatstadt viele Jahre als Antimafia-Staatsanwalt. 2007 war er als Berater des italienischen Parlaments für den Bereich organisierte Kriminalität tätig. Von 2008 bis 2013 war Gianrico Carofiglio Mitglied des italienischen Senats. Berühmt gemacht haben ihn vor allem seine Romane um den Anwalt Guido Guerrieri. Carofiglios Bücher feierten sensationelle Erfolge, wurden bisher in 27 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen literarischen Preisen geehrt, u.a. mit dem Radio Bremen Krimipreis 2008. Er lebt mit seiner Familie in Bari.

Zeit der Schuld von Gianrico Carofiglio ist bei Goldmann erschienen.
(JK 07/21)

Guillermo Martínez: Der langsame Tod der Luciana B. (Eichborn)

Ein spannender und kunstvoll konstruierter Roman über den Zufall ist Der langsame Tod der Luciana B. von Guillermo Martínez, der bei Eichborn erschienen ist.

Luciana B. ist eine schöne und intelligente Studentin. Nebenbei arbeitet sie als Sekretärin bei dem berühmten Krimiautor Kloster. Als dieser ihr eindeutige Avancen macht, zeigt Luciana ihn an und zerstört damit seine Ehe. Als dann innerhalb weniger Jahre ihr Verlobter auf rätselhafte Weise ertrinkt, ihre Eltern an einer Pilzvergiftung sterben und ihr Bruder brutal ermordet wird, steht für Luciana fest: Hinter all ihrem Unglück steht Kloster, der ihr nie verziehen hat und sich grausam rächt...

Guillermo Martínez hat einen ruhigen und überlegten Krimi geschrieben, keine Actionszenen oder grausame Verbrechen benutzt er, sondern fein geschliffene Sprache und hat somit einen wunderbaren Krimi geschrieben, der einem klassischen Erzählmuster folgt. Er baut systematisch die Spannung immer weiter auf mit geheimnisvollen Figuren und furiosem Finale.

Guillermo Martínez, geboren 1962, lebt in Buenos Aires und ist promovierter Mathematiker. Für seinen Krimi Die Oxford-Morde erhielt er 2003 den Premio Planeta; der Roman wurde in über 40 Sprachen übersetzt und 2008 fürs Kino verfilmt. Der Nachfolgeband Der Fall Alice im Wunderland wurde mit dem Premio Nadal 2019 ausgezeichnet.

Der langsame Tod der Luciana B. von Guillermo Martínez ist bei Eichborn erschienen.
(JK 07/21)

James Baldwin: Ein anderes Land (dtv)

Ein anderes Land
ist James Baldwins explizitester, leidenschaftlichster Roman. Er ist jetzt in einer Neuübersetzung bei dtv erschienen.

Warum hat Rufus Scott – ein begnadeter schwarzer Jazzer aus Harlem – sich das Leben genommen? Wegen seiner Amour fou mit der weissen Leona, einer Liebe, die nicht sein durfte? Verzweifelt sucht Rufus’ Schwester Ida nach einer Erklärung. Aber sie findet nur Wahrheiten, die neue Wunden schlagen – auch über sich selbst. Wie ihr Bruder war Ida lange bereit, sich selbst zu verleugnen, um ihren Traum zu verwirklichen, den Traum, Sängerin zu werden. Wie ihr Bruder hat sie ihre Wut auf die Weißen, die sie diskriminieren. Bis jetzt. Baldwin verwickelt uns in ein gefährliches Spiel von Liebe und Hass – vor der Kulisse eines Amerikas, das sich selbst in Trümmer legt.

Es ist ein absoluter Glücksfall, dass der dtv das Werk von James Baldwin neu auflegt und mit einer zeitgemässen neuen Übersetzung ausstattet. Der Kampf gegen den alltäglichen Rassismus und Toleranz sind die großen Themen im Werk von James Baldwin. So geht es auch in diesem Roman um Freundschaft, Liebe, Sex, Vertrauen, Misstrauen, Treue und Untreue, Glück und Leid.

James Baldwin, geboren 1924 und gestorben 1987, als Schriftsteller zu Lebzeiten vielfach ausgezeichnet, gilt bis heute als Ikone der Gleichberechtigung aller Menschen, ungeachtet ihrer Hautfarbe, ihrer sexuellen Orientierung oder ihres Herkunftsmilieus. Er war der erste Schwarze Künstler auf dem Cover des Time Magazine. Mit der Neuübersetzung des Romans Von dieser Welt startete dtv 2018 die Wiederentdeckung Baldwins in Deutschland.

Ein anderes Land von James Baldwin ist bei dtv erschienen.
(JK 07/21)

Sebastian Fitzek: Der erste letzte Tag (Droemer)

Sebastian Fitzeks neuer Roman Der erste letzte Tag ist kein Thriller und der bekannte Thriller begibt sich mit seinem bei Droemer erschienenen Roman auf neues Terrain.

Ein ungleiches Paar, eine schicksalhafte Mitfahrgelegenheit, ein Selbstversuch der besonderen Art: was geschieht, wenn zwei Menschen einen Tag verbringen, als wäre es ihr letzter? Ein Roadtrip voller Komik, Dramatik und unvorhersehbarer Abzweigungen von Sebastian Fitzek – mit zwei skurrilen, ans Herz gehenden Hauptfiguren, die unterschiedlicher nicht sein könnten.

Livius Reimer macht sich auf den Weg von München nach Berlin, um seine Ehe zu retten. Als sein Flug gestrichen wird, muss er sich den einzig noch verfügbaren Mietwagen mit einer jungen Frau teilen, um die er sonst einen großen Bogen gemacht hätte. Zu schräg, zu laut, zu ungewöhnlich – mit ihrer unkonventionellen Sicht auf die Welt überfordert Lea von Armin Livius von der ersten Sekunde an. Bereits kurz nach der Abfahrt lässt Livius sich auf ein ungewöhnliches Gedankenexperiment von Lea ein – und weiß nicht, dass damit nicht nur ihr Roadtrip einen völlig neuen Verlauf nimmt, sondern sein ganzes Leben!

Sebastian Fitzek kann also nicht nur Thriller. Sehr unterhaltsam ist sein Roman Der letzte Tag mit sympathischen Figuren, die mit kleinen Macken behaftet sind, und die Leser:innen berühren. Und wie bei seinen Thrillern kann man auch hier nicht sicher sein, wie es endet.

Sebastian Fitzek, geboren 1971, ist Deutschlands erfolgreichster Autor von Psychothrillern. Seit seinem Debüt Die Therapie (2006) ist er mit allen Romanen ganz oben auf den Bestsellerlisten zu finden. Mittlerweile erscheinen seine Bücher in sechsunddreißig Ländern und sind Vorlage für internationale Kinoverfilmungen und Theateradaptionen. Als erster deutscher Autor wurde Sebastian Fitzek mit dem Europäischen Preis für Kriminalliteratur ausgezeichnet und 2018 mit der 11. Poetik-Dozentur der Universität Koblenz-Landau geehrt. Er lebt in Berlin.

Der erste letzte Tag von Sebastian Fitzek ist bei Droemer erschienen.
(JK 07/21)

Viet Thanh Nguyen: Die Idealisten (Blessing)

„Zwischen schreiend komisch und erschreckend düster“ beschreibt NDR Kultur der Roman Die Idealisten von Viet Thanh Nguyen, der bei Blessing erschienen.

Paris, 1981: Die Hauptstadt der ehemaligen Kolonialmacht ist für viele vietnamesische Flüchtlinge der rettende Hafen nach einer langen Irrfahrt über die Weltmeere. Auch der namenlose Ich-Erzähler und sein bester Freund Bon haben es aus ihrer Heimat nach Europa geschafft. Auf der Suche nach einem Job geraten sie an die vietnamesische Drogenmafia. Als Dealer machen sie ein gutes Geschäft, und der Ich-Erzähler, ein ehemaliger kommunistischer Spion, profitiert von einem Wirtschaftssystem, das er eigentlich ablehnt. Im Konflikt mit sich selbst und ständig konfrontiert mit rassistischen Übergriffen, sucht er nach einem neuen Lebensentwurf. Dabei wird ihm der beste Freund zum größten Widersacher und der sichere Hafen Paris zur tückischen Falle.

Mit Die Idealisten hat Viet Than Nguyen die Fortsetzung zu seinem Roman Der Sympathisant geschrieben. Hierfür ist der Autor wie sein Protagonist nach Frankreich umgezogen und hat Französisch gelernt. Man kann Die Idealisten als Buch jedoch auch lesen, ohne den Vorgänger gelesen zu haben. Der Autor holt die Leser in das Setting ab. Er erzählt kraftvoll und dicht mit viel Witz, wobei ihm immer wieder literarische Anspielungen gelingen.

Viet Thanh Nguyen, geboren 1971 in Südvietnam, floh nach dem Fall von Saigon 1975 mit seinen Eltern in die USA. Er studierte Anglistik und Ethnic Studies in Berkeley und arbeitet seit seiner Promotion 1997 als Hochschullehrer an der University of Southern California in Los Angeles. Für sein Romandebüt, den internationalen Bestseller Der Sympathisant, erhielt er 2016 den Pulitzer-Preis und den Edgar Award.

Die Idealisten von Viet Thanh Nguyen ist bei Blessing erschienen.
(JK 07/21)

Martin Cruz Smith: Die Spur des Bären (C. Bertelsmann)

Die Spur des Bären
, erschienen bei C. Bertelsmann, ist der 9. Roman von Martin Cruz Smith in der erfolgreichen Thriller-Reihe um den russischen Ermittler Arkadi Renko.

Der legendäre Moskauer Ermittler Arkadi Renko ist in größter Sorge um seine ehemalige Geliebte Tatjana. Die mutige Enthüllungsjournalistin ist nicht planmäßig aus Sibirien zurückgekehrt. Dort wollte sie den politischen Dissidenten Kusnezow porträtieren – einen charismatischen, aber auch skrupellosen Mann, der das ehrgeizige Ziel verfolgt, die Dauerherrschaft Putins zu brechen. Getrieben von bösen Vorahnungen, aber auch rasender Eifersucht, begibt sich Renko auf eine riskante Reise. Er merkt schnell, dass in der unwirtlichen, eisigen Natur Sibiriens ganz eigene Gesetze herrschen. Doch erst eine grausame Bärenjagd, von der er sich wichtige Insider-Informationen verspricht, führt ihm vor Augen, in welche gefährlichen politischen Fänge Tatjana geraten ist…

Martin Cruz Smith hat mit der Figur des Arkadi Renko in seiner Thriller-Reihe den Umbruch der Sowjetunion zum heutigen Russland begleitet. Er ist sich über die nahezu 40 Jahre treu geblieben und konzentriert sich auf das politische, kulturelle und wirtschaftliche Russland mit all seinen Herausforderungen. Renko kämpft mittlerweile gegen den Autokraten Putin mit seinen Oligarchen und für politische Dissidenten und die Pressefreiheit in der Figur der Journalistin Tatjana. Klassische Ermittlungsarbeit in einem autoritären System ohne High Tech Action. Auch der neunte Renko-Roman ist sehr gut gelungen und glänzt mit einem unkaputtbaren Helden, den man einfach lieben muss.

Martin Cruz Smith, 1942 in Philadelphia geboren, gelang mit dem Thriller Gorki Park ein Weltbestseller, der auch in der Verfilmung mit William Hurt und Lee Marvin ein Millionenpublikum begeisterte. Seither hat der russische Ermittler Arkadi Renko eine große Fan-Gemeinde.

Die Spur des Bären von Martin Cruz Smith ist bei C. Bertelsmann erschienen.
(JK 07/21)

Salvatore Scibona: Der Freiwillige (Berlin Verlag)

Eine moderne Odyssee, die sich über ein halbes Jahrhundert erstreckt und über den Krieg und seine Folgen im Frieden schreibt Salvatore Scibona in seinem Roman Im Strom der Steine, der im Berlin Verlag erschienen.

Der Junge weint zum Steinerweichen. Er ist mit ein paar Dollar in der Tasche am Flughafen Hamburg ausgesetzt worden. Niemand versteht, was der verzweifelte Kleine sagt, also verstummt er, und dieser Roman muss seine Geschichte für ihn erzählen. Sie beginnt zwei Generationen vorher, als sich ein Mann aus einer Laune heraus freiwillig für den Vietnamkrieg meldet, eine moderne Odyssee, die sich über ein halbes Jahrhundert erstreckt.

Das Buch startet fulminant mit den dramatischen Ereignissen um das Schicksal des fünfjährigen Janis. Allerdings dreht Scibona den Fokus recht schnell auf die Vorgeschichte der Eltern und der Junge gerät aus dem Blickfeld. Auch die Vorgeschichte wird von Scibona im Verlauf des Romans eindringlich erzählt, insbesondere die Kriegserlebnisse. Man wird dennoch nicht den Eindruck los, dass der Autor sich nicht recht entscheiden konnte, wohin der Roman gehen soll. Als Leser:in vermisst man nach dem bewegenden Start im Verlauf der Geschichte das Kind – Stoff für einen eigenen Roman. Das Buch kann dann nicht ganz halten, was es in der starken ersten Hälfte verspricht. Dennoch gibt der Roman einen wichtigen Einblick in das Vietnam-Trauma der USA.

Salvatore Scibona, 1975 in Cleveland geboren, ist einer der wichtigsten amerikanischen Autoren der jüngeren Generation. Scibona wuchs im großen Kreise seiner italienischstämmigen Familie auf. Vor allem seine Großeltern, von denen er viele Geschichten erzählt bekam, beeinflussten sein späteres Schreiben. Bereits mit seinem ersten Roman Das Ende wurde er für den National Book Award nominiert. Der Freiwillige ist sein zweites Buch. Salvatore Scibona lebt in New York City. Im Frühjahr 2021 wurde er mit dem Preis der American Academy of Arts and Letters ausgezeichnet.

Der Freiwillige von Salvatore Scibona ist im Berlin Verlag erschienen.
(JK 07/21)

Gabriela Adameşteanu: Das Provisorium der Liebe (Aufbau Verlag)

Eine der wichtigsten und engagiertesten Stimmen der rumänischen Gegenwartsliteratur. Der Roman Das Provisorium der Liebe von Gabriela Adameşteanu ist im Aufbau Verlag erschienen.

Letitia und Sorin arbeiten in einem Kulturinstitut im Rumänien der siebziger Jahre. Sie lieben sich – heimlich. Im Schatten einer Lenin-Statue oder in der schmuddeligen Wohnung eines Freundes. Sorin sucht die wahre Liebe und Letitia eine Flucht aus ihrem traurigen Eheleben. Beide sind sie gefangen in den Strukturen ihrer Familien und den Einschränkungen des kommunistischen Systems, kurz vor der Machtübernahme Ceauşescus. Eine Zwischenzeit, die von Freiheit, Sex, Konsum und Momentglück geprägt ist. Gabriela Adameşteanu gelingt es meisterhaft, die Geschichten mehrerer Generationen zu verweben und diese Zeit des Übergangs lebendig werden zu lassen. Ein Provisorium, das nach Glück und Sehnsucht schmeckt und nach ebenso viel Vergänglichkeit.

Die Autorin vermittelt eindringlich das Leben in einem totalitären Regime. Neben der Liebesgeschichte erfährt man viel über die rumänische Wirklichkeit zu den Zeiten von Ceaucescu und seines Geheimdienstes Securitate. Angenehm ist, dass dies nebenbei in die Liebesgeschichte eingeflochten wird ohne diese zu überlagern. Die Unsicherheit dem anderen gegenüber wird getragen von der allgemeinen Verunsicherung in der Gesellschaft. Wem kann man überhaupt trauen? Wir erleben ein subtiles Soziopsychogramm, brillant erzählt von der Autorin.

Gabriela Adameşteanu, geboren 1942, ist als Schriftstellerin und Publizistin neben Norman Manea und Mircea Cărtărescu eine der wichtigsten Stimmen der rumänischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Sie war Bürgerrechtlerin und Präsidentin des rumänischen P.E.N..

Das Provisorium der Liebe von Gabriela Adameşteanu ist im Aufbau Verlag erschienen.
(JK 07/21)

Jérôme Loubry: Der Erlkönig (Ullstein)

Er kommt des Nachts – und nimmt dich mit: Der Thriller Der Erlkönig von Jérôme Loubry ist bei Ullstein erschienen.

Wenige Tage nachdem Sandrine zu der Insel aufgebrochen ist, auf der ihre verstorbene Großmutter gelebt hat, findet man sie verstört und mit fremdem Blut an ihren Kleidern am Strand. Sie wird ins Krankenhaus eingeliefert. Was sie erzählt, ist wirr. Kommissar Damien kann sich keinen Reim darauf machen. Von welchem Kinderheim spricht Sandrine? Was hat es mit dem Bootsunglück auf sich, bei dem alle Kinder ums Leben gekommen seien sollen? Und weshalb stammelt sie immer wieder voller Schrecken diesen einen Namen: der Erlkönig? Damien folgt den Puzzleteilen von Sandrines Geschichte – und blickt schon bald in einen Abgrund, der dunkler ist als jede Nacht…

Jérôme Loubrys Thriller ist komplexer angelegt, als es der Inhaltsteaser erscheinen lässt. Spannend und vielschichtig wird er in mehreren Handlungssträngen auf unterschiedlichen Zeitebenen aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt: Gegenwart, 1986 und 1949. Insgesamt sehr geschickt angelegt, hält der Autor für die Leser*innen die eine oder andere Überraschung bereit, die Geschichte ist gleichermaßen für einen Thriller ungewöhnlich tiefgründig.

Jérôme Loubry, geboren 1976, lebt nach Stationen im Ausland heute in der Provence. Für Die Hunde von Detroit, sein Debüt, hat er 2018 den Prix Plume libre d’Argent gewonnen. Der Erlkönig wurde 2019 mit dem Prix Cognac du meilleur roman francophone, einem der renommiertesten Krimipreise Frankreichs, ausgezeichnet. Er gilt als der aufsteigende Stern am französischen Krimihimmel.

Der Erlkönig von Jérôme Loubry ist bei Ullstein erschienen.
(JK 06/21)

Brandon Taylor: Real Life (Piper)

Real Life
vom US-amerikanischen Schriftsteller Brandon Taylor, erschienen bei Piper, ist ein aufwühlender Roman über die Sprengkraft subtiler Diskriminierung.

Ein Spätsommerabend bei Freunden, man plaudert und sagt: Wallace könne froh sein, es als einziger Schwarzer an der Uni zum Biochemie-Doktoranden gebracht zu haben. Selbst die, die ihm angeblich nahestehen, sehen oft nicht mehr als die Farbe seiner Haut. Als sein Vater stirbt, brechen die Erinnerungen über Wallace herein: an eine Kindheit in Alabama, die ihrem Elend nicht gewachsene, trinkende Mutter und den kühlen, seltsam unbeteiligten Vater. All das hat Wallace hinter sich gelassen. Wallace bricht mit der Vergangenheit, die ihn in einem Leben hält, das nicht mehr seines ist. Doch noch immer spürt er die Kluft der Scham, die ihn von seinen Freunden trennt. Und nicht zuletzt von Miller, mit dem er eine heimliche Affäre beginnt. Er wagt sich hinaus ins echte Leben, zeigt sich und riskiert, alles zu verlieren – oder alles zu gewinnen.

Brandon Taylor legt mit Real Life sein hochgepriesenes literarisches Debüt vor, das ein Editor’s Pick der New York Times war und auf der Shortlist des Booker Prize 2020 stand. Es ist die Geschichte eines jungen Mannes, der umgeben von Rassismus und Homophobie aufwächst, und hofft, als erster schwarzer Student in das System endlich hineinzupassen. Es ist ein Blick in die amerikanische Realität auf dem platten Land abseits der großen, liberalen Küstenstädte der USA. Es werden viele Fragen aufgeworfen, unter anderem ob die junge Leute heute nur vorgeben, offen und unvoreingenommen ihren Mitmenschen gegenüber zu stehen oder sind sie es wirklich? Brandon Taylor geht in seinem Roman sehr subtil vor, dabei sprachlich sehr lebendig und flüssig. Auch wenn man als Leser darauf hofft, dass die Hauptfigur einmal auf den Tisch haut, ob der vielen Ungerechtigkeiten um ihn herum, so versteht es der Autor durch seinen Erzählstil, gerade das verständlich zu machen.

Brandon Taylor wurde 1989 in Prattville, Alabama, geboren. Der ehemalige Iowa Arts Fellow ist Chefredakteur der Literaturzeitschrift Recommended Reading und schreibt als freier Autor für die New York Times, Guernica, American Short Fiction, O: The Oprah Magazine, The New Yorker und viele mehr. Ein Band mit Short Storys ist in Vorbereitung.

Real Life von Brandon Taylor ist bei Piper erschienen.
(JK 06/21)

Michal Hvorecky: Tahiti Utopia (Tropen)

Der Mensch braucht eine Utopie und die Welt ist zum Verändern da. Willkommen auf Tahiti! Der Roman Tahiti Utopia von Michal Hvorecky ist bei Tropen erschienen.

Wie sähe die Welt aus, wenn es Großungarn noch geben und die Slowakei nicht existieren würde? Was wäre mit den Slowaken? Man würde sie auf Tahiti finden, dieser kleinen Insel mitten im Pazifik, mit ihren schönen Stränden, weit weg von der westlichen Zivilisation. Denn wer will nicht ein Stück vom Paradies?

Wir schreiben das Jahr 2020, Großungarn existiert noch und mittlerweile leben drei Generationen Slowaken auf Tahiti. Wie kam es dazu, was hat sie dorthin verschlagen? Haben sie das Abenteuer und ein besseres Leben gesucht oder wurden sie doch aus Großungarn vertrieben, wie manche behaupten? Andere erzählen, dass sie einst von Milan R. Stefanik, dem berühmten Diplomaten, Astronomen, Dichter und General dorthin geführt wurden, um der Unterdrückung zu entfliehen und die Slowakei neu zu gründen. Was man weiß, ist, dass auch sie ein Stück des paradiesischen Atolls für sich wollten. Doch der Traum, in der Südsee ein freies Leben zu führen, entpuppte sich im Aufeinanderprallen der Kulturen schnell als Luftschloss …

Michal Hvoreckys Roman stellt die Geschichte auf den Kopf und betrachtet den neuen Nationalismus. Er stellt beeindruckend heraus, wie hartnäckig alte Vorurteile und neuer Nationalstolz zu Tage treten, wenn unterschiedliche Kulturen aufeinandertreffen. Er legt damit den Finger in die Wunde europäischer Realität und liefert eine beachtliche Tour de Force über politisch gesteuerte Medien, Verschwörungstheorien und Geschichtsklitterung. Ein Thema, das dem Autor sehr am Herzen liegt, lebt er doch eben in der Region, wo es tagtäglich zur Realität gehört.

Michal Hvorecky, geboren 1976, lebt in Bratislava. Auf Deutsch erschienen bereits drei seiner Romane und eine Novelle. Hvorecky verfasst regelmäßig Beiträge für die FAZ, Die Zeit und zahlreiche Zeitschriften. In seiner Heimat engagiert er sich für den Schutz der Pressefreiheit und gegen antidemokratische Entwicklungen.

Tahiti Utopia von Michal Hvorecky ist bei Tropen erschienen.
(JK 06/21)

Bernhard Heckler: Das Liebesleben der Pinguine (Tropen)

Die Eifersucht auf einen Vibrator und andere Ur-Szenen der Liebe: Der Roman Das Liebesleben der Pinguine von Bernhard Heckler ist bei Tropen erschienen.

Wir sehen die Welt durch unsere Smartphones und Laptops, durch die Fensterfronten der Fitnessstudios. Sie sieht echt aus. Aber von Zeit zu Zeit pressen wir unsere Hände an das Glas, werfen das Smartphone an die Wand. Wir wollen uns begegnen. Uns berühren. Das ist alles. Wie immer schon. Und es ist, wie immer schon, unendlich schwer. Das Liebesleben der Pinguine erzählt von den Ur-Szenen der Liebe in der digitalen Gegenwart: der Eifersucht auf New-Age Sextoys, Neid auf das eigene Selfie und der schockierenden Überwältigung unerwarteter, echter Gefühle.

Das Millenium war kurz vor ihrem ersten Kuss. Und der war geheim. Ein Verrat an ihrem gemeinsamen Freund Sascha, mit dem Nura zusammen und in den Niko verliebt war. Das war einmal. Nun, fast 20 Jahre später, ist Niko Social-Media-Darling und Nura Ghostwriterin für Online-Dating. Er verkauft Erfindungen von sich selbst, sie hilft anderen, sich besser zu verkaufen. Nuras bester Kunde ist Franco, Süditaliener und auf dem Weg, Deutschlands bekanntester Strongman zu werden. Doch dann tritt Sascha wieder in Nuras Leben, Niko verfällt seinem Istanbuler Chess-Mate Farjad, Franco begegnet seiner Frau und bekommt Probleme mit den Gewichten. Das Leben folgt keinem Lifeplan.

Mit feiner Beobachtungsgabe und großer Sympathie erzählt Bernhard Heckler von intimer Einsamkeit an technischen Geräten und der großen Sehnsucht nach Liebe und Freundschaft. Pinguine stehen übrigens – ähnlich wie Hipster – gern in der Gegend herum. Sie cornern. Und drücken sich vor dem Sprung ins kalte Wasser. Ihre Partnerschaften halten meist ein ganzes Leben.

Bernhard Heckler hat einen turbulenten, warmherzigen und unterhaltsamen Roman über Freundschaft, Sehnsucht und wahrer Liebe in unserer schnelllebigen Zeit geschrieben. Liebenswert und sympathisch schlagen sich die überdrehten Hauptfiguren durch schräge Konstellationen und verrückte Situationen.

Bernhard Heckler, geboren 1991 in München, hat in Regensburg, Istanbul, Wien und München Politikwissenschaft und Journalismus studiert, war Stipendiat der Bayerischen Akademie des Schreibens und der FAZIT-Stiftung und wurde an der Deutschen Journalistenschule ausgebildet. Er schreibt für die Süddeutsche Zeitung, Die ZEIT und deren Magazine. Bernhard Heckler lebt in München.

Das Liebesleben der Pinguine von Bernhard Heckler ist bei Tropen erschienen.
(JK 06/21)

Fang Fang: Weiches Begräbnis (Hoffmann und Campe)

In ihrem zuerst gefeierten, dann verfemten Roman Weiches Begräbnis, der bei Hoffmann und Campe erschienen ist, rührt Fang Fang an die Traumata der chinesischen Seele.

Als Weiches Begräbnis 2016 in China erscheint, wird der Roman als wichtigstes chinesisches Werk der letzten Jahrzehnte gefeiert und mit dem renommierten Literaturpreis Lu Yao ausgezeichnet. Doch als bei einer Parteizusammenkunft der Roman mit dem Vokabular der Kulturrevolution als „Giftpflanze“ verbrämt wird, verschwindet das Buch vom Markt. Denn Fang Fang rührt darin an ein unverarbeitetes Trauma der chinesischen Gesellschaft, die Landreform nach 1948, als Millionen Chines*innen hingerichtet und in „weichen Begräbnissen“, d.h. ohne Sarg, verscharrt wurden.

In einem kleinen Dorf wird eine junge Frau halbtot aus einem Fluss gezogen, sie erinnert sich an nichts. Der Dorfarzt Dr. Wu rettet ihr das Leben, und sie beginnt ein neues: Sie wird Haushälterin des KP-Kaders vor Ort, heiratet ihren Retter Dr. Wu, und sie bekommen einen Sohn. Doch im Laufe der Jahre löst sich der schützende Kokon des Vergessens. Sie sind verdammt zu schweigen, denn das Schweigen schützt die Familie: auch dafür steht „weiches Begräbnis“, die Erinnerung so tief zu begraben, dass gefährliches Wissen für immer verlorengeht. Im Schatten dieses Traumas wächst ihr Sohn auf – doch alles ändert sich, als er beginnt, die Vergangenheit zu erforschen.

Fang Fangs Roman ist der Gegenentwurf zur offiziellen chinesischen Version der Bodenreform. Es ist eine berührende und feinsinnige Geschichte ohne Happy End. Sie fördert dabei viel Unbekanntes für uns im Westen zutage. Besonders schätzenswert ist das sehr aufschlussreiche Nachwort des Übersetzers.

Fang Fang ist eine der bekanntesten Schriftstellerinnen Chinas. Sie wurde 1955 geboren und lebt seit ihrem zweiten Lebensjahr in Wuhan. In den letzten 35 Jahren hat sie eine Vielzahl von Romanen, Novellen, Kurzgeschichten und Essays veröffentlicht. Stets spielten die Armen und Entrechteten in ihren Werken eine große Rolle. 2016 veröffentlichte sie den von der Kritik gefeierten Roman Weiches Begräbnis, für den sie mit dem renommierten Lu-Yao-Preis ausgezeichnet wurde.

Weiches Begräbnis von Fang Fang ist bei Hoffmann und Campe erschienen.
(JK 06/21)

Angelika Waldis: Lauter nette Menschen (Wunderraum)

Die Aufnahme eines Flüchtlings in der Familie Dreher sorgt für einige Unruhe im Roman Lauter nette Menschen von Angelika Waldis, der bei Wunderraum erschienen ist.

Die Drehers sind eine ganz normale Familie: zwei Kinder, ein Haus, eine Katze. Man isst gemeinsam, man redet miteinander. Doch das neue Jahr bringt Veränderungen mit sich. Als Tarek, ein junger Flüchtling und Inges neuestes Projekt, im Keller einzieht, sucht Heiner murrend Zuflucht in der Gartenlaube, wo er dichtet und böse Briefe schreibt. Die beiden halbwüchsigen Söhne Nick und Josch rebellieren auf ihre Weise und entdecken die Lust am Verbotenen. Am Ende dieses ganz gewöhnlichen Jahres ist bei den Drehers nichts mehr beim Alten, die Katze einmal ausgenommen.

Humorvoll und mit gehörigem Scharfsinn beschreibt Angelika Waldis, was die Aufnahme des Flüchtlings Tarek mit sich bringt. Für die Mutter ist es eine willkommene Abwechslung und gibt ihrem Leben neuen Sinn, für die Familie eher nervig und stört den Frieden. Wunderschön und spannend erzählt mit vielen Pointen.

Angelika Waldis, geboren 1940 in der Schweiz, gab mit ihrem Mann viele Jahre lang das wegweisende Schülermagazin Spick heraus. Mit 65 veröffentlichte sie ihren ersten Roman. Ihr Roman Ich komme mit wurde zum Lieblingsbuch des Deutschschweizer Buchhandels gewählt. Angelika Waldis lebt bei Zürich.

Lauter nette Menschen von Angelika Waldis ist bei Wunderraum erschienen.
(JK 06/21)

Gerhard Roth: Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe (S. Fischer)

Gerhard Roth hat mit
Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe einen kunstvoll verrätselten Thriller geschrieben, der bei S. Fischer erschienen ist.

Die Kunsthistorikerin Lilli Kuck reist nach Venedig, nachdem ihr Mann Klemens dort unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen ist. Jetzt, nach seinem Tod, hat sie plötzlich das Gefühl, nicht mehr zu wissen, wer Klemens – ein berühmter Comiczeichner – wirklich gewesen ist. In Venedig folgt Lilli den Wegen ihres Mannes. Welche Orte hatte er aufgesucht und wo gewohnt? Hatte er eine Geliebte? War er auf der Suche nach seinem Vater gewesen? Lilli lässt sich treiben, folgt Zufällen und ihrer Intuition, sucht nach Zugängen zu einer anderen Wahrnehmung und „zweiten Wirklichkeit“, in der sich ihr die Geheimnisse enthüllen könnten. Als sie den Mord an einem Polizisten beobachtet, gerät sie selbst in Gefahr, setzt ihre Erkundungen aber unbeirrt fort. In einer märchenhaften Welt der Schönheit und des Todes wird der Abschied von der Stadt zum Neubeginn.

Gerhard Roth schaut tief in die Seele seiner Figuren. Er lässt die Geschichte langsam entwickeln. Auf dem Weg baut er immer wieder mysteriöse Kleinigkeiten, kleine überraschende Wendungen und neue Figuren ein. Hauptdarstellerin ist La Serenissima, Venedig. Für Liebhaber der Stadt ein Genuss, der Geschichte in der Stadt zu folgen.

Gerhard Roth, 1942 in Graz geboren, lebt als freier Schriftsteller in Wien und der Südsteiermark. Er veröffentlichte zahlreiche Romane, Erzählungen, Essays und Theaterstücke, darunter den 1991 abgeschlossenen siebenbändigen Zyklus Die Archive des Schweigens und den nachfolgenden Zyklus Orkus. Zuletzt erschienen die beiden Bände über Venedig Die Irrfahrt des Michael Aldrian und Die Hölle ist leer – die Teufel sind alle hier.

Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe von Gerhard Roth ist bei S. Fischer erschienen.
(JK 06/21)

Akwaeke Emezi: Der Tod des Vivek Oji (Eichborn)

Akwaeke Emezis Roman Der Tod des Vivek Oji, erschienen bei Eichborn, stand 2020 in den USA auf den Bestsellerlisten und wurde vielfach zum Buch des Jahres gewählt.

Eines Nachmittags öffnet eine Mutter in einer Stadt im Südosten Nigerias ihre Haustür und entdeckt den Körper ihres toten Sohnes, eingewickelt in bunten Stoff. Ihren Sohn, den die eigenen Eltern nie so recht verstanden haben. Vivek Oji ist schon früh anders als die anderen Kinder und leidet unter Ohnmachtsanfällen. Während der Vater den Militärdienst herbeisehnt, überschüttet die Mutter den Sohn mit Fürsorge. Viveks engste Bezugsperson ist sein Cousin Osita. Kann er Vivek helfen, sein Innerstes zu offenbaren?

Der Roman von Akwaeke Emezi berührt tief. Es wird das Leben des Vivek Oji ausgebreitet, die Träume und Sehnsüchte, der Schmerz und die Wunden. Der Roman besticht mit der Vielfalt an Themen, denen sich die Autorin annimmt. Nigeria als ein Land mit vielfältigen kulturellen und religiösen Identitäten könnte mit einer solchen Konstellation eigentlich eine tolerante Gesellschaft hervorbringen und doch ist es tief gefangen in gesellschaftlichen, religiösen und rassenideologischen Zwängen. Es scheint Menschen wie Vivek Oji keinen Platz anzubieten. Ein bewegender Roman erster Güte.

Akwaeke Emezi ist eine igbo-tamilische Autorin und Künstlerin zwischen den Welten. Sie wuchs in Nigeria auf und absolvierte ihren Master in Verwaltungswissenschaften an der New York University. Im Jahr 2017 gewannen sie den Commonwealth Short Story Prize für Afrika.

Der Tod des Vivek Oji von Akwaeke Emezi ist bei Eichborn erschienen.
(JK 06/21)

Jakob Bodan: Das Schöne, Wahre und Böse (Droemer)

Zwei Männer wollen Kanzler werden – nur einer überlebt. Und zwei Frauen ahnen nicht, worauf sie sich eingelassen haben. Jakob Bodans neuer Roman
Das Schöne, Wahre und Böse ist bei Droemer erschienen.

Der Tote in der Wanne eines mondänen Schweizer Grandhotels entfacht in Berlin einen politischen Orkan. In ihrem Zentrum die Fotoreporterin Constanze Behrenberg. Je mehr sie enthüllt, desto stärker wird sie selbst davon erfasst. Und sie muss sich entscheiden zwischen Karriere und Freundschaft zu Freia. Die junge Hotelangestellte hat sich ausgerechnet in einen Mann verloren, der Kanzler werden will – mit allen Mitteln. Ist die Liebe stärker als die Macht? Die beiden Frauen geraten in Teufels Küche. Mit Mut und Witz kommen sie gemeinsam dem Wahren auf die Spur. Wahrlich nicht leicht, wenn sich das Schöne und Gute so furios mit dem Bösen verbinden.

Jakob Bodan hat einen fiktiven politischen Krimi geschrieben, Parallelen zum Tode des schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Barschel 1987 in Genf drängen sich förmlich auf. Er ist realitätsnah und doch gleichzeitig unrealistisch. Die recht düstere Geschichte erzählt Bodan mit viel Humor, Sarkasmus und Witz. Manche mögen den Schreibstil mit den kurzen Kapiteln gewöhnungsbedürftig finden, insgesamt treibt dieser Trick die Dynamik höher.

Jakob Bodan ist ein Schriftsteller und Filmemacher. Einige Male hat ihn der Atem der Geschichte aus der Nähe gestreift, nicht zuletzt der Terrorismus der RAF. So folgt er der Maxime: Wovon man nicht schweigen darf, davon muss man schreiben. Aufgewachsen in den Voralpen, lebt er zurzeit in Monterey und Moabit.

Das Schöne, Wahre und Böse von Jakob Bodan ist bei Droemer erschienen.
(JK 06/21)

Bernhard Aichner: Dunkelkammer (btb)

Der erste Bronski-Krimi von Bernhard Aichner ist mit dem Titel
Dunkelkammer bei btb erschienen.

Es ist Winter in Innsbruck. Ein Obdachloser rettet sich in eine seit langem leerstehende Wohnung am Waldrand. Im Schlafzimmer findet er eine Leiche, die dort seit zwanzig Jahren unentdeckt geblieben war. Ein gefundenes Fressen für Pressefotograf David Bronski. Gemeinsam mit seiner Journalistenkollegin Svenja Spielmann soll er vom Tatort berichten und die Geschichte der Toten recherchieren. Dass dieser Fall jenseits des Spektakulären aber auch etwas mit ihm zu tun hat, verschweigt er.

Seit er denken kann, fotografiert Bronski das Unglück. Richtet seinen Blick auf das Dunkle in der Welt. Dort wo Menschen sterben, taucht er auf. Er hält das Unheil fest, ist fasziniert von der Stille des Todes. Es ist wie eine Sucht. Bronski ist dem Tod näher als allem anderen, er lebt nur noch für seine Arbeit und seine geheime Leidenschaft. Das Fotografieren, analog. Dafür zieht er sich zurück in seine Dunkelkammer. Es sind Kunstwerke, die er hier schafft. Porträts von toten Menschen. Es ist sein Versuch, wieder Sinn zu finden nach einem schweren Schicksalsschlag.

Dunkelkammer ist ein gelungener Auftakt einer spannenden und vielversprechenden, neuen Krimireihe von Bernhard Aichner. Ungewöhnlich und dennoch flüssig geschrieben mit einigen unvorhergesehenen Wendungen für die Leser hat Aichner mit Bronski eine interessante Figur geschaffen, die geheimnisvoll und unergründlich erscheint und man näher ergründen möchte. Der zweite Krimi folgt…

Bernhard Aichner, geboren 1972, schreibt Romane, Hörspiele und Theaterstücke, er ist einer der erfolgreichsten Autoren Österreichs – aber er ist auch Fotograf. Bevor er sich der Werbefotografie zuwandte, war er jahrelang als Pressefotograf für den KURIER tätig. Bei der zweitgrößten Tageszeitung Österreichs erlernte er das journalistische Handwerk. Seine Aufgabengebiete waren vielfältig, im Besonderen war er von der Polizeifotografie fasziniert. Hier ging es um Unfälle, Mord und Naturkatastrophen. Aus diesem Grund siedelt Aichner nun seine neue Buchreihe genau in diesem Milieu an, in dem er sich jahrelang bewegt hat. Er weiß also aus erster Hand, worüber er schreibt. Für seine Kriminalromane wurde Aichner mit mehreren Literaturpreisen und Stipendien ausgezeichnet, zuletzt mit dem Burgdorfer Krimipreis 2014, dem Crime Cologne Award 2015 und dem Friedrich Glauser Preis 2017.

Dunkelkammer von Bernhard Aichner ist bei btb erschienen.
(JK 06/21)

Franzobel: Rechtswalzer (btb)

Ein Mann in den Fängen der Justiz, ein Mord – und Wien im Opernballfieber, darum dreht es sich im Roman Rechtswalzer von Franzobel, der bei btb als Taschenbuch erschienen ist.

Der erfolgreiche Getränkehändler und Barbesitzer Malte Dinger ist ein Glückspilz. Als er jedoch unverschuldet in die Fänge der Justiz gerät, steht plötzlich seine ganze Existenz auf dem Spiel. Für den Balkan-Casanova Branko ist das Leben da schon vorbei. Vieles deutet darauf hin, dass er das Opfer abseitiger sexueller Praktiken geworden ist, doch Kommissar Groschen glaubt nicht recht daran. Das Verhältnis Brankos zu der lustig gewordenen Witwe des Bautycoons Hauenstein bringt dann die Machenschaften der neuen rechtsnationalen Regierung ans Licht, die den bevorstehenden Opernball als Propagandaspektakel inszenieren will.

Es ist etwas faul im Staate Österreich und Franzobl streut genüsslich Salz in die schwärende Wunde in diesem satirisch überspitzten Blick in die nahe Zukunft. Franzobel beschreibt eine beängstigende Zukunftsversion der österreichischen Politik à la George Orwell. Die eigentliche Kriminalgeschichte ist in diesem Roman nebensächlich. Die Leser sind fasziniert und schockiert gleichzeitig. Franzobels neuer Krimi spielt in der Zukunft, ist aber brandaktuell.

Franzobel, dessen eigentlicher Name Franz Stefan Giebel ist, geboren 1967 in Vöcklabruck, erhielt u. a. den Ingeborg-Bachmann-Preis (1995), den Arthur-Schnitzler-Preis (2002) und den Nicolas-Born-Preis (2017). Mit seinem Roman Das Floß der Medusa stand er auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis und wurde mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet.

Rechtswalzer von Franzobel ist bei btb erschienen.
(JK 05/21)

Wladimir Medwedew: Im Strom der Steine (Aufbau Verlag)

Eine der spannendsten Stimmen der russischen Gegenwartsliteratur. Der Roman Im Strom der Steine von Wladimir Medwedew ist im Aufbau Verlag erschienen.

Wladimir Medwedew erzählt die packende Geschichte eines Geschwisterpaares im zentralasiatischen Tadschikistan Anfang der 1990er Jahre. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetmacht gerät das Land in den Strudel von Bürgerkrieg und regionalen Machtkämpfen. Der Vater von Sarina und Andrej, ein tadschikischer Arzt, wird ermordet. Auch seine russische Frau und seine Kinder werden bedroht und daraufhin von Onkel und Großvater in ihr Heimatdorf im Pamir geholt. Doch der Vater hatte dort noch eine zweite Frau, eine Tadschikin. Und die Auseinandersetzungen zwischen den Familien könnten nicht grösser sein

Ein atemberaubender, vielschichtiger Gesellschafts- und Familienroman – mit dem sich Wladimir Medwedew an die Spitze der russischen Gegenwartsliteratur geschrieben hat.

Medwedew lässt kapitelweise immer einen anderen Protagonisten die Handlung weiter erzählen. Dies verleiht dem Roman eine willkommene Dynamik und schafft bei den Lesern intuitiv ein Verständnis für die besondere Situation der Protagonisten. Man versteht, dass Tadschikistan keine homogene Bevölkerung hat. Jede Figur im Roman repräsentiert diese regionale Zersplitterung des Landes. Opulent und mit einer klugen Mischung von jüngster Vergangenheit und Fiktion erzählt der Autor von einem uns fremden Land.

Wladimir Medwedew wurde in Transbaikalien geboren und verbrachte den größten Teil seines Lebens in Tadschikistan, wo er als Monteur, Helfer einer Geologentruppe, Dorflehrer, Fotojournalist, Patentfachmann in einem Konstruktionsbüro, Sporttrainer und Redakteur in Literaturzeitschriften tätig war. Heute lebt er in Moskau. Im Strom der Steine ist sein erster Roman, der vielfach ausgezeichnet wurde und mit dem Medwedew zweifellos zu den spannendsten Stimmen der russischen Gegenwartsliteratur zu zählen ist.

Im Strom der Steine von Wladimir Medwedew ist im Aufbau Verlag erschienen.
(JK 05/21)

Camila Sosa Villada: Im Park der prächtigen Schwestern (Suhrkamp)

Lebensgeschichte, Roman, Märchen, Manifest: Der Roman Im Park der prächtigen Schwestern von Camila Sosa Villada, erschienen bei Suhrkamp, erzählt von der Freude am Leben gegen alle Widerstände, von Zugehörigkeit, von Befreiung und der alles entscheidenden Macht der Fantasie.

Hass verjagt Camila von zu Hause. Sie geht in die Stadt, auf der Suche nach einem Ort, an dem sie feiern kann, was sie ist: trans. Sie trifft ihresgleichen, wird Teil einer Wahlfamilie aus Prostituierten und Marginalisierten. Und gemeinsam feiern sie: die Liebe, den Rausch, im Widerstand gegen eine Gesellschaft, die sie verachtet. Tief in der argentinischen Provinz ist es gefährlich, anders zu sein. Wer sich nicht einordnet, bekommt schnell Gewalt zu spüren, zuallererst vom eigenen Vater. Bei Camila war das nicht anders und es blieb nur die Flucht, nach Córdoba in die Anonymität der Stadt. Doch Camila will kein Opfer sein, sich nicht vorschreiben lassen, wo ihr Platz in der Gesellschaft ist. Im Park Sarmiento begegnet sie eines Nachts einer Schar Gleichgesinnter, schillernde Paradiesvögel, mit denen Camila fortan alles teilt: den Schnaps, die Träume, die Freier, Drogen und Demütigungen. Sie werden zu Schwestern in einem Märchen, zu Verbündeten im scheinbar aussichtslosen Kampf um Selbstbestimmung und Lebensfreude als Transsexuelle in Lateinamerika.

Der Roman ist etwas Besonderes. Die harte Realität wird gepaart mit dem magischen Realismus Südamerikas. Doppelmoral, soziale Ächtung, Gewalt und Drogen gehören zur Realität von Transfrauen weltweit, Argentinien ist da keine Ausnahme. Umso beeindruckender und kontrastierender die Wärme der Figuren, ihre Sehnsüchte und ihr Kampf um Anerkennung, um ein Leben in Würde. Der Roman begeistert und berührt zugleich.

Camila Sosa Villada, geboren 1982 in der argentinischen Provinz Córdoba, arbeitete als Prostituierte, bevor ihr mit einem selbstproduzierten Theaterstück über ihr Leben als Transsexuelle der schauspielerische Durchbruch gelang. Seither spielt sie Rollen für Film, Fernsehen und Theater und gehört zu den prominentesten Gesichtern der Trans-Gemeinde in Lateinamerika.

Im Park der prächtigen Schwestern von Camila Sosa Villada ist bei Suhrkamp erschienen.
(JK 05/21)

Dana Grigorcea: Die nicht sterben (Penguin)

Dana Grigorcea zeichnet in ihrem Roman Die nicht sterben, der bei Penguin erschienen ist, ein atemberaubend atmosphärisches Porträt der postkommunistischen Gesellschaft in Rumänien, die bis heute in einem Zwischenreich gefangen scheint.

Eine junge Bukarester Malerin kehrt nach ihrem Kunststudium in Paris in den Ferienort ihrer Kindheit an der Grenze zu Transsilvanien zurück. In der Kleinstadt B. hat sie bei ihrer großbürgerlichen Großtante unter Kronleuchtern und auf Perserteppichen die Sommerferien verbracht. Eine Insel, auf der die kommunistische Diktatur etwas war, das man verlachen konnte. „Uns kann niemand brechen“, pflegte ihre Großtante zu sagen. Inzwischen ist der Kommunismus Vergangenheit und B. hat seine besten Zeiten hinter sich. Für die Künstlerin ist es eine Rückkehr in eine fremd gewordene Welt, mit der sie nur noch wenige enge Freundschaften und die Fäden ihrer Familiengeschichte verbinden. Als auf dem Grab Vlad des Pfählers, als Dracula bekannt, eine geschändete Leiche gefunden wird, begreift sie, dass die Vergangenheit den Ort noch nicht losgelassen hat – und der Leitspruch ihrer Großtante zugleich der Draculas ist. Die Geschichte des grausamen Fürsten will sie erzählen. Am Anfang befürchtet sie, dass sie die Reihenfolge der Geschehnisse verwechseln könnte. Dann wird ihr klar: Jede Reihenfolge ergibt einen Sinn. Weil es in der Geschichte nicht um Ursache oder Wirkung geht, sondern nur um eines: Schicksal. Inzwischen aber ist es für jede Flucht zu spät.

Virtuos bringt die Autorin die Geschichte Rumäniens zusammen, den schrecklichen Fürsten Dracula und den gestürzten Diktator Nicolae Ceaușescu, ohne letzteren explizit vorzuführen. Sie zieht Parallelen zur Gegenwart und verwebt sie mit Elementen des magischen Realismus. Literarisch auf hohem Niveau hat die Autorin einen Roman geschrieben, für den man sich Zeit nehmen muss, um seine Tiefe zu ergründen.

Dana Grigorcea wurde 1979 in Bukarest geboren, sie studierte Germanistik und Nederlandistik und lebt seit vielen Jahren mit ihrer Familie in Zürich. Die Werke der rumänisch-schweizerischen Schriftstellerin, etwa der Roman Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit und die Novelle Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen, wurden in mehrere Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem 3sat-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb.

Die nicht sterben von Dana Grigorcea ist bei Penguin erschienen.
(JK 05/21)

Tomasz Jedrowski: Im Wasser sind wir schwerelos (Hoffmann und Campe)

Ein Sommer. Eine Liebe: Der Debütroman Im Wasser sind wir schwerelos von Tomasz Jedrowski, erschienen bei Hoffmann und Campe, beschreibt den letzten Sommer der Jugend, Liebe und Verlust. Und die Opfer, die wir bringen, um aufrecht durchs Leben zu gehen.

Ludwik ist verliebt. Es ist der Sommer nach dem Examen, ein Sommer, in dem alles anders wird. Denn Ludwik ist verliebt in Janusz, eine Unmöglichkeit in Polen im Jahr 1980. Zu zweit verbringen sie magische Tage an einem verborgenen See im Wald. Hier können sie sich einander offenbaren, hier erleben sie die große Liebe. Doch irgendwann ist der Sommer zu Ende, sie müssen zurück in die Stadt. Die Welt befindet sich im Umbruch, Ludwik träumt von der Flucht in den Westen, Janusz wählt eine Karriere innerhalb des Systems. Ludwik muss sich entscheiden: für ein Leben voller Heimlichkeiten – oder den Mut, er selbst zu sein.

Der Roman ist ein melancholischer Blick auf eine nur kurze Zeit glücklicher, freier und unbeschwerter Sorglosigkeit im Leben der Studenten Ludwik und Janusz. Es ist jedoch auch die Geschichte von Ludwik, die in Rückblenden erzählt wird. Schön und auf hohem Niveau fängt Tomasz Jedrowski die Leidenschaft der ersten großen Liebe ein.

Tomasz Jedrowski, als Kind polnischer Eltern in Bremen aufgewachsen, studierte Jura in Cambridge und an der Université de Paris. Nach Jahren in Großbritannien und Polen lebt er nun in Paris. Im Wasser sind wir schwerelos ist sein Debütroman, der in Großbritannien von der Kritik gefeiert und vom Guardian zum Buch des Jahres ernannt wurde.

Im Wasser sind wir schwerelos von Tomasz Jedrowski ist bei Hoffmann und Campe erschienen.
(JK 05/21)

Lilja Sigurðardóttir: Der Käfig (DuMont)

Nach Die Schlinge und Das Netz folgt mit Der Käfig das große Finale der mitreißenden Spannungstrilogie aus Island von Lilja Sigurðardóttir, die bei DuMont erschienen ist.

Sonja wünscht sich nichts sehnlicher, als ein normales Leben zu führen. Alle Brücken wollte sie hinter sich abbrechen und in London neu anfangen, weit weg von ihrer Vergangenheit und ihrer Heimat Reykjavík. Doch ihre Pläne werden zunichtegemacht: Sie muss mit ihrem Sohn Tómas zurück nach Island und mit langjährigen Gegnern abrechnen, wenn sie am Leben bleiben will. Für ihre Exfreundin Agla haben sich die Gefängnistore derweil wieder geöffnet, doch ist sie gefangen in ihrer Einsamkeit. Ihre Beziehung zu Sonja hat sie aufs Spiel gesetzt und verloren. Als sie von einem großen ausländischen Unternehmen gebeten wird, sich in ein Komplott in der Aluminiumbranche einzumischen, willigt sie resigniert ein und recherchiert mit Hilfe ihrer Erzfeindin, der investigativen Journalistin María. Bald schweben die beiden Frauen in höchster Gefahr, denn der skrupellose Geschäftsmann Ingimar schreckt vor nichts zurück, um sein Imperium zu schützen − doch er hat keine Ahnung, auf welchem Pulverfass er sitzt…

Wirtschaftskriminalität, Korruption, erschütternde Szenen aus der Drogenszene und dem Alltag im Frauengefängnis. Der dritte und abschließende Band der Reihe packt heiße gesellschaftliche Themen an. Undurchsichtig, verschlungen und verwirrend hat die Autorin die Handlung komponiert, um am Ende die einzelnen Handlungsstränge überzeugend zusammenzuführen.

Lilja Sigurðardóttir wurde 1972 in der isländischen Kleinstadt Akranes geboren und wuchs in Mexiko, Spanien und Island auf. Bereits mehrfach ausgezeichnet für ihre Theaterstücke, wurde sie mit ihrer Reykjavík-Trilogie auch einem internationalen Publikum bekannt. Eine Verfilmung ist in Planung.

Der Käfig von Lilja Sigurðardóttir ist bei DuMont erschienen.
(JK 05/21)

Kate Atkinson: Weiter Himmel (DuMont)

Wenn Vertrauen zur Falle wird: Weiter Himmel ist der fünfte Band der Jackson- Brodie-Reihe von Kate Atkinson, der bei DuMont erschienen ist.

Tommy, Andy und Steve leben in gut situierten Verhältnissen. Sie sind verheiratet, haben Kinder, sind beliebte Mitglieder im Golfclub und trinken hier und da ein Bierchen miteinander: Wer würde sie nicht für fürsorgliche Familienväter halten? Niemand ahnt etwas von ihrem lukrativen Nebengeschäft; einem Geschäft, das einst von Männern betrieben wurde, die, ebenso wie sie, als anständig galten. Alles könnte so reibungslos weiterlaufen wie bisher, denn ihre Ware ist begehrt. Doch als eine Frau aus ihrem Bekanntenkreis tot aufgefunden wird, stößt nicht nur die Polizei auf sie, sondern auch der Privatdetektiv Jackson Brodie. Sein jüngster, völlig harmloser Auftrag führt ihn direkt zu den drei Ehrenmännern – und bald ist Brodie mittendrin in einem Fall um verschwundene junge Frauen und eine Zeugin, die sich nichts sehnlicher wünscht, als ihre schreckliche Vergangenheit endlich hinter sich lassen zu können...

Genregrenzen hält Kate Atkinson in ihrem Roman nicht ein. Krimi, Gesellschaftskritik und literarisch hochwertig in einem. Menschenhandel, Kindesmissbrauch und Gewalt, eine Fassade der Bigotterie mit Ehefrauen, die die Abgründe ihrer Männer decken, um den seelischen Frieden im Heim aufrecht zu erhalten. Es ist eine beeindruckende Geschichte mit einem furiosen Finale, in dem Kate Atkinson auch vor unkonventionellen Schritten nicht zurückschreckt. Die Bände der Jackson-Brodie-Reihe kann man übrigens alle als Einzelwerke lesen.

Kate Atkinson wurde bereits für ihren ersten Roman Familienalbum mit dem renommierten Costa Book of the Year Award ausgezeichnet. Mittlerweile stehen ihre Bücher regelmäßig auf den internationalen Bestsellerlisten. Für Das vergessene Kind, den vierten Band in der Reihe um den Privatermittler Jackson Brodie, erhielt sie den Deutschen Krimipreis 2012 und für ihren Roman Die Unvollendete den Costa Novel Award 2013. Kate Atkinson lebt in Edinburgh und gilt als eine der wichtigsten britischen Autorinnen der Gegenwart.

Weiter Himmel von Kate Atkinson ist bei DuMont erschienen.
(JK 05/21)

Charles Lewinsky: Melnitz (Diogenes)

Neu aufgelegt mit einem Nachwort des Autors erschien bei Diogenes der ursprünglich 2006 erschienene Roman Melnitz des schweizerischen Autors Charles Lewinsky.

Als eines Nachts im kleinen Schweizer Judendorf Endingen im Jahr 1871 ein entfernter Verwandter der Familie des Viehhändlers Solomon Meijer an die Tür der Meijers klopft, ahnt keiner, dass sich das Leben der Familie von diesem Moment an radikal ändern wird. Janki Meijer, aus der französischen Armee entflohen, bringt frischen Wind in die Familie und zeigt sich unternehmungslustig. Ein Jahr später hat er eine Braut. Ihr Weg führt sie hinaus aus dem Dorf in die kleine Stadt Baden. Janki versucht sein Glück im Tuchgeschäft. Vom jüdischen Dorf, wo jeder jeden kennt, ist es ein weiter Weg zur Erfüllung des Traums vom ganz normalen bürgerlichen Leben. Nachdem man ihnen endlich das volle Bürgerrecht gegeben hat, hoffen die Meijers darauf, gewöhnliche Schweizer werden zu können. Es geht nach Zürich, Arthur wird Arzt, bald gibt es sogar einen Landwirt. Aber trotz aller Bemühungen stoßen sie immer wieder gegen eine unsichtbare Wand – so wie es ihnen der unsterbliche Onkel Melnitz vorausgesagt hat. Melnitz erzählt von fünf Generationen, die alle um Erfolg und Akzeptanz ringen – in einer Welt, die ihnen immer weniger offen steht und spürbar aus den Fugen gerät.

Wie sich die Geschichte dieser weit verzweigten jüdischen Familie bis ins Jahr 1945 entwickelt, erzählt Lewinsky mit einer solchen Gestaltungskraft, dass die Leser unweigerlich zu einem bangenden und hoffenden Teil der Familie werden. Dabei zeigt Lewinsky auf den latenten Antisemitismus in der Schweiz, allerdings ohne Pathos und überaus unterhaltsam.

Charles Lewinsky, 1946 in Zürich geboren, arbeitete als Dramaturg, Regisseur und Redakteur, seit 1980 als freier Autor. Er schreibt Hörspiele, Romane und Theaterstücke; außerdem verfasst er Drehbücher, etwa für den Film Ein ganz gewöhnlicher Jude. Für seine Romane hat er zahlreiche Preise bekommen: Für Johannistag erhielt er den Schillerpreis der Zürcher Kantonalbank; Melnitz wurde in zehn Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, u.a. in China als Bester deutscher Roman 2006, in Frankreich als Bester ausländischer Roman 2008. Gerron wurde 2011 für den Schweizer Buchpreis nominiert, der Roman Kastelau war für den Deutschen Buchpreis 2014 nominiert. Charles Lewinsky lebt in Zürich und Frankreich. 

Melnitz von Charles Lewinsky ist bei Diogenes erschienen.
(JK 05/21)