Wo Geld alles ist, zählt
das Leben eines Kindes nichts. Auf diesen kurzen Nenner kann man den neuen
Roman Der stumme Zeuge des brasilianischen Autors Edney Silvestre
bringen, der bei Limes erschienen ist.
São Paulo, Brasilien: Ein
kleiner blonder Junge wird mit einer Luxuslimousine von der Schule abgeholt.
Minuten später ist der Fahrer des Wagens tot, das Kind in der Gewalt einer
Söldnertruppe. Mit der Entführung soll der Vater des Kindes, der mächtige Medienmogul
Olavo Bettencourt, zur Aufdeckung eines Korruptionsskandals der brasilianischen
Politikelite gezwungen werden. Doch Bettencourt reagiert nicht auf die
Forderungen und den Entführern läuft die Zeit davon. Sie bekommen Zweifel:
Haben sie den richtigen Jungen in ihrer Gewalt?
Im Jahr 1990 öffnete der
Wirtschaftsplan der brasilianischen Regierung Fernando Collor de Mello, der
1992 aus dem Amt gejagt wurde, über Nacht den brasilianischen Binnenmarkt für Importe
und markierte den Beginn eines rigorosen Privatisierungsprogramms. Die Kosten
waren unbeschreiblich hoch und trafen die Bevölkerung völlig unvorbereitet. Mehr
als 920.000 Arbeitsplätze gingen verloren, die Inflation erreichte unglaubliche
Höhen von bis zu 1200% pro Jahr. „Es war der Beginn der größten Diaspora
Brasiliens, weil ganze Familien nach Lissabon, New York und anderen Städten im
Ausland gingen auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen, um überhaupt zu
überleben und, noch schlimmer, ohne Pläne je wieder nach Brasilien
zurückzukehren“, sagt der Autor und Journalist Edney Silvestre. Er interessiert
sich besonders für diese kritische Zeit der jüngsten brasilianischen
Geschichte, recherchierte Dokumente und führte Interviews. All die daraus
gesammelten Erkenntnisse nahm er als Basis seines zweiten Romans Der stumme Zeuge.
Es
ist kein herkömmlicher Krimi, in dem die
Handlung der Auflösung des Falles entgegentreibt. Wer die Entstehungsgeschichte
dieses Romans kennt, erkennt die Triebfeder des Autors. Und damit wird dieses
Buch zu etwas Besonderem. Der Roman hat eine ganz eigene Stimmung, Perspektiven
werden gewechselt und eröffnen die Gedankenwelten verschiedener Personen. Das
Drama um den Jungen ist bedrückend und sehr real dargestellt. Wie die
Mitglieder der Oberschicht rücksichts- und skrupellos agieren und wie hilflos
die Mitglieder der Unterschicht diesem Treiben ausgesetzt sind, das ist, was
Edney Silvestre in seinem Roman zeigen will. Und das ist ihm überaus gelungen.
Der Brasilianer Edney
Silvestre, geboren 1950, ist in seinem Heimatland ein bekannter Journalist und
Fernsehmoderator. Sein Debütroman Der letzte Tag der Unschuld wurde auf
Anhieb ein Erfolg und mit renommierten Literaturpreisen wie dem Prêmio Jabuti
und dem São-Paulo-Preis ausgezeichnet. Nach mehreren Jahren als Korrespondent
in New York lebt Edney Silvestre heute wieder in Brasilien.
Der stumme Zeuge von Edney Silvestre ist bei Limes erschienen.
(JK 10/16)
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