Eine Nacht mit ihm. Und
plötzlich ist sie die meistgesuchte Frau der Welt. Das ist die
Ausgangssituation in Richard Flanagans neuem Roman Die unbekannte
Terroristin, der bei Piper erschienen ist.
In einem Fußballstadion
werden drei Bomben entdeckt, und Gina Davis verbringt eine Nacht mit einem Fremden.
Als sie aufwacht, ist der Mann verschwunden und sie eine mutmaßliche
Terroristin. Noch bevor sie sich stellen und alles aufklären kann, entgleitet
ihr die Kontrolle über ihr gesamtes Leben. Wer soll ihr noch glauben? Sogar sie
selbst kann sich der endlosen Schleife der Fernsehbilder kaum entziehen: Tariq
und sie auf den Bildern der Überwachungskameras, Schnitt. Die Bomben im
Stadion, Schnitt. Anschläge in Städten auf der ganzen Welt. Gina wird klar,
dass diese gigantische politische und mediale Maschinerie nicht mehr zu stoppen
ist. In nur drei Tagen ist aus ihr ein vollkommen anderer Mensch geworden: Sie
ist der Feind. Sie ist die Angst vor der Bedrohung durch das Unbekannte, das
unsere Welt dieser Tage in Schrecken versetzt.
Flanagan
beginnt die Geschichte mit einem Kick-Start und bringt sie dermassen Fahrt,
dass man es fast als filmisch bezeichnen kann. Die unbekannte Terroristin liest
sich wie ein Buch zum Film, der garantiert folgen wird. Ein Soundtrack ist
sogar bereits vorhanden, denn eine Nocturne von Chopin unterliegt immer wieder
der Geschichte, die ironischerweise die ganz verschiedenen Schauplätze vereint.
Flanagan organisiert Verschwörungen und erschafft Verfolgungsjagden, wie man
sie in diesem Genre erwartet. Sein Interesse geht jedoch über die Action hinaus
und ist tiefgründiger. Er hat einen Roman über den Zustand einer Nation
geschrieben und er apostrophiert Australien mit einer Wut, die von verratener
Liebe abgeleitet scheint. Flanagans Australien ist keine Gemeinschaft und kaum mehr
eine Gesellschaft. Das Volk, wie die Lap-Dancerin in dem Roman mit ihrem
Verlangen nach Designer-Klamotten, ist dem Materialismus verfallen, besessen
von Hypotheken, Pensionszahlungen und dem Erwerb der neuesten und glitzerndsten
Gadgets. Seine Käuflichkeit macht aus ihnen moralische Feiglinge, und die
Regierung terrorisiert sie darüber hinaus mit der von der Bush-Administration
aus den USA in die Welt getragene ökonomische Besitzstandsangst und unverhohlener
Fremdenfeindlichkeit. In diesem kraftvollen und schonungslosen Roman, der vor
den Hintergrund des Krieges gegen den Terror gesetzt wird, zeigt Flanagan uns
eine Welt ohne Gnade und Vergebung, ohne Licht, auf dem Weg in eine
unerschütterliche Katastrophe.
Richard Flanagan wurde
1961 in Tasmanien geboren. Sein Roman Goulds Buch der Fische,
ausgezeichnet mit dem Commonwealth Prize, machte ihn 2002 weltweit bekannt,
seine insgesamt sechs Romane sind seither in 41 Ländern erschienen. Für Der
schmale Pfad durchs Hinterland erhielt Richard Flanagan den bedeutendsten
englischsprachigen Literaturpreis, den Man Booker Prize.
Die unbekannte Terroristin von Richard Flanagan
ist bei Piper erschienen.
(JK 11/16)
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