Der
neue Roman Nussschale von Ian McEwan, erschienen bei Diogenes, ist eine literarische Tour de Force von einem der
größten Erzähler englischer Sprache. Eine klassische Konstellation: der Vater,
die Mutter und der Liebhaber. Und das Kind, vor dessen Augen sich das Drama
entfaltet. Aber so, wie Ian McEwan sie erzählt, hat man diese elementare
Geschichte noch nie gehört. Verblüffend, verstörend, fesselnd, philosophisch.
Trudy betrügt ihren
Ehemann. Sie wohnt nach wie vor in seinem Haus – einem heruntergekommenen
Einfamilienhaus in London, das ein Vermögen wert ist –, aber ohne ihren Gatten,
den Dichter und Verleger John. Stattdessen geht dort sein Bruder ein und aus,
der zutiefst banale Bauunternehmer Claude. Trudy und Claude haben einen Plan.
Doch ihre Intrige hat einen Zeugen: das wissbegierige, knapp neun Monate alte, ungeborene
Kind in Trudys Bauch.
McEwans adaptiert in
seinem Roman Shakespeares Hamlet, eine Geschichte über List und Leidenschaft, Verrat und
Mord – ein atemberaubendes Drama, erzählt aus einer der ungewöhnlichsten
Perspektiven der zeitgenössischen Literatur, von einem Fötus in der
Gebärmutter. McEwan suggeriert, dem Leser, dass der monologisierende Embryo seine
Gelehrsamkeit aus Trudys Gewohnheit gewonnen hat, Radio 4 zu hören. Und dabei hat McEwan, wie es scheint, enormen Spaß, eine Stimme zu kreieren, die mit sowohl wildem als
auch wirbelndem Wortspiel lebendig und in der Lage ist, alle Arten grotesker Gemütsstimmungen
zu vereinen. Die Idee ist originell und interessant, aber auch riskant. Der
Embryo wirkt klüger als alle ihn umgebenden Erwachsenen, eine Gratwanderung der
Altklugheit. Seine Assoziationen sind mitunter abstrus, wenn er Dinge beschreibt,
die er als Embryo nie gesehen haben kann. Das große Kapital Ian McEwans ist
jedoch seine geniale Erzählkunst mit einem Stil sprachlicher Virtuosität.
Ian McEwan, geboren 1948
in Aldershot (Hampshire), lebt bei London. 1998 erhielt er für Amsterdam
den Booker-Preis und 1999 den Shakespeare-Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung für
das Gesamtwerk. Sein Roman Abbitte wurde zum Weltbestseller und mit
Keira Knightley verfilmt. Er
ist Mitglied der Royal Society of Literature, der Royal Society of Arts und der
American Academy of Arts and Sciences.
Nussschale von Ian McEwan ist bei Diogenes erschienen.
(JK 01/17)
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