Bücherhalle
Harburg
Donnerstag, 25.10.2018 20.00
Uhr
Eddelbüttelstr. 47a, Hamburg
Eintritt: frei
Memoir mit Tiefenschärfe: Frank Schulz liest aus
einem Erzählband Anmut und Feigheit, der bei Galiani Berlin erschienen
ist.
Seine Literatur gehört
zum Feinsten, was in Deutschland gegenwärtig unterwegs ist, und er ist so oft
und so euphorisch für seine humoristisch- realistische Prosa gefeiert worden,
dass man das Lob vorerst auch einmal auslassen kann, um gleich ein Rotkehlchen
zu erwähnen. Das sieht einen auf dem neuen Erzählband von Frank Schulz so schön
von der Seite an, nicht frech oder forsch, sondern inständig und direkt und
darüber steht dann Anmut und Feigheit. Es ist eine sehr gelungene
gestalterische Übersetzung des Titels und der Erzählung Rotkehlchen, die
fast am Anfang einer Chronik steht, mit der Frank Schulz, beginnend 2018, bis
ins Jahr 1950 zurückwandert. Für sein hochpoetisches Memoir hat er die
Geheimratsecken der späteren Jahre so gut ausgeleuchtet wie frühe Wunder und
die sich so unweigerlich einschleichende Verböserung der Welt.
Von der Horrorstory über
ein Fragment, die Anekdote, Schnurre und Farce, bis zum Tagebucheintrag, einem
Memoir und einer Flaschenpost, in seinen 23 neuen Erzählungen spielt Frank
Schulz einen ganzen Formenreigen durch, sogar Zwei Briefe in die Zukunft
sind dabei. Da schreibt Daniel seiner Klassenkameradin Lisa 1997 einen Brief,
den sie 20 Jahre später öffnen und lesen soll. Lisa antwortet ihm 2017 mit
einem Brief, den Daniel erst im Jahr 2037 lesen wird. Und na klar, was soll
schon groß drinstehen? Nicht viel, das bei Frank Schulz auf nur wenigen Seiten
aber doch in einem Resümee über die Unwägbarkeiten unserer Zeit kulminiert und
man würde halt gerne wissen, was Daniel in 20 Jahren darüber sagt – auch zu
Herrn Brosamer und seinem Rempferd. Dieser typische Sound, in dem er „in
allen Humorkategorien blind mitfiedeln kann“, wie Sven Regener bei der
Verleihung des Kasseler Literaturpreises für grotesken Humor an Frank Schulz
sagte, er ist in den Erzählungen überall am Werk, bezieht seine Dynamik aber
keineswegs nur aus der Lust an Ironie und Heiterkeit. In der großartigen
Auftakterzählung Szenen in Beige begegnen wir einem gewissen Kortsch,
der sich vor seinem sechzigsten Geburtstag durch einen leichten Schlaganfall
mit der „schwarzen Pädagogik des Schicksals“ konfrontiert sieht und mit der
Frage, was die attraktive Mittdreißigerin nur an ihm findet, mit der er
glücklich zusammenlebt. Das darauf folgende Fragment Rotkehlchen ist ein
berührender autobiographischer Bericht über das Sterben und den Tod der Mutter,
der auch mit dem Gesamttitel Anmut und Feigheit des Bandes überschrieben
sein könnte. Von einer leisen Ironie wird der Text hier höchstens noch
getragen, wenn Frank Schulz sich im Gespräch mit den Rotkehlchen wiederfindet,
die ihn an seine Mutter erinnern, mit deren Tod eine „Gefühlsfestung“ verloren
gegangen ist. Dieser Gesamtangriff auf die selbstverständlichen Koordinaten des
Lebens ist dem großartigen Erzählband insgesamt eingeimpft und klingt auch an,
wenn Der Ritter von der Rosskastanie sich mit dem „Tag der Kettensäge“ konfrontiert
sieht oder Büttner „stumm um die tiefere Enttäuschung ringt“. Für die präzisen
Resultate hart erkämpfter Lebenserfahrung findet Frank Schulz dann aber doch
noch „wohlpronocierte S-Laute: Einsch und einsch ischt tschwei. Tschwei und
tschwei ischt vier. Vier und vier…“
Frank Schulz, Jahrgang
1957, wurde für seine Romane vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem
Hubert-Fichte-Preis (2004), dem Irmgard-Heilmann-Preis (2006) und dem Kasseler
Literaturpreis für grotesken Humor (2015).
Anmut und Feigheit von Frank Schulz ist bei Galiani Berlin erschienen.
(JK 10/18)
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