Irgendwo in Frankreich, im Licht einer roten Laterne, wächst mitten im Krieg das Waisenkind Pierre heran. Der Zuhälter Saint-Jean ist ganz vernarrt in den Jungen und erzieht ihn zu einem ebenso liebenswerten Gauner, wie er selbst einer ist. Wunder und Legenden aus meinem Land im Krieg von Richard Morgiève, erschienen bei Claassen, ist ein kluger und sehr komischer Roman darüber, was es heißt, am Leben zu bleiben.Paris im Jahr 1940. Während der deutschen Besatzung verlassen mit Tausenden von Menschen auch der Zuhälter Saint-Jean und seine Huren Roseline, Josette und Fortuna die Hauptstadt in Richtung Süden. Leider besitzt Saint-Jean keinerlei Orientierungssinn, weshalb er die leichten Damen stattdessen in Richtung Westen führt. Unterwegs stirbt der kleine Pierre, das Baby der blinden Fortuna. Als in einem Koffer am Straßenrand plötzlich ein hungriger Säugling schreit, nehmen sie ihn kurzerhand als Pierre in ihre Obhut. Eines Tages erreicht der Trupp ein Kaff, in dem Saint-Jean ein Bordell eröffnen darf. Dort schlafen sie nun alle mit denselben Nutten: die Soldaten, Widerständler, Kollaborateure, Flüchtlinge und besseren Herrschaften, und doch existiert rundherum nur eine einzige Obszönität: die des Krieges und seiner verkommenen Moral. Immer größer wird unterdessen der Findling Pierre, der uns diese liebevoll verruchte Geschichte aus einer verrückten Zeit erzählt.
Morgièves Roman ist ein ungewöhnliches Buch und das nicht nur aus formaler Sicht, da es in weiten Teilen ohne Punkt und Komma geschrieben ist. Er erzählt aus einer zerrissenen Zeit. Er schockiert bewusst, um sofort danach wieder zu beschwichtigen. Der Autor verlangt dem Leser sehr viel ab , denn das, was er zu erzählen hat, ist die absurde Situation, in die Menschen geraten können. Und wenn alles schon so schlimm kommt, dann muss man es so grotesk überzeichnen, dass das Absurde an sich lächerlich wirken kann.
Richard Morgiève, geboren 1950 in Paris, verlor im Alter von sieben Jahren seine Mutter, sechs Jahre später nahm sein Vater sich das Leben. Bereits mit seinem ersten, 1988 erschienenen Roman Kleiner Mann von hinten (erschienen in Deutschland erst 2008), einer Hommage an die Liebe seiner Eltern, hat er sich in die Herzen der Franzosen geschrieben. Seither hat er zahlreiche Romane und Theaterstücke verfasst.
Wunder und Legenden aus meinem Land im Krieg von Richard Morgiève ist bei Claassen erschienen.
(JK 12/09)
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