Literaturhaus
Dienstag, 20.05.2014 19.30 Uhr
Schwanenwik
38, 22087 Hamburg
Eintritt: 6 – 10 €
Den Abschluss des Autoren-Kritiker-Treffens der Hamburger Begegnung
bildet traditionsgemäß eine Lesung, bestritten von zwei Autoren, die an der
Tagung teilnahmen. In diesem Jahr sind dies zwei Schriftstellerinnen, die
unterschiedlichen Generationen angehören und die mit ihren Ästhetiken zeigen,
wie variationsreich die deutschsprachige Gegenwartsliteratur auftritt: Larissa
Boehning und Gertrud Leutenegger. Meike Feßmann moderiert.
Larissa Boehning, Jahrgang 1971, erzählt in Nichts davon stimmt, aber alles ist wahr, erschienen bei Galiani,
klug und genau von einem jungen Mann, der die Chance wittert, schnell zu erben,
und von einer todkranken, einsamen Frau, die die Gelegenheit sieht, noch einmal
jemanden an sich zu binden, der ihr jeden Wunsch von den Lippen abliest.
Matthias gibt den Frauen nur, was sie wollen; er ist kein schlechter
Mensch. Dass er seiner Mutter erzählt, er werde wahrscheinlich bald in den
diplomatischen Dienst aufgenommen, ist eine Art Notlüge zur Rettung des
Selbstbewusstseins. Er kann ja schlecht zugeben, dass er von der Versicherung,
bei der er Vertreter war (in ihren Augen ohnehin ein unwürdiger Job), gerade
gefeuert wurde. Seiner Nachbarin erzählt er, er suche seine entlaufene Katze
(obwohl es die eines anderen ist) – wie sonst hätte er mit ihr in Kontakt
kommen und eine Affäre anfangen können? Und die verschiedenen Profile in den
Dating-Börsen des Internets braucht er nur zum Geldverdienen; sein Herz hängt
da nicht dran. Als er Annemarie Funk, eine todkranke, einsame Frau kennenlernt,
drängt er sich nicht auf. Sie ist es, die ihm verrät, dass sie so gern einen
Sohn gehabt hätte. Und sie kommt auf die Idee, sein Name »Matthias« heiße
schließlich »Geschenk Gottes«, er könne doch bei ihr einziehen. Doch seine
Hoffnung, schnell und einfach zu einem Erbe zu kommen, wird auf eine harte
Probe gestellt: Unvermutet blüht Annemarie in seiner Gegenwart auf, scheint
sich auf wundersame Art zu verjüngen. Und das Ringen beginnt – um die kurze
Zukunft von Annemarie, um das, was sie zu erzählen hat, um das, was sie
hinterlassen wird, und darum, was einem Menschen, der nicht mehr lange zu leben
hat, wirklich wichtig ist: die Wahrheit oder eine schöne Illusion.
Gertrud Leutenegger, Jahrgang 1948, hingegen entführt in Panischer Frühling, erschienen bei Suhrkamp,
in das London des Frühjahrs 2010, als auf Island der Vulkan Eyjafjallajökull
ausbricht und mit seinen Aschewolken den Flugverkehr in halb Europa lahmlegt.
In dieser Windstille streift die Erzählerin durch die Stadt und unternimmt
zusammen mit einem Straßenverkäufer eine ganz eigenwillige Erinnerungsreise.
Ein Vulkanausbruch auf Island legt den europäischen Luftverkehr lahm,
Zehntausende Menschen stranden an den Flughäfen. Während die Bilder der
Aschewolke um die Welt gehen, steht über der Themse ein strahlend blauer
Frühlingshimmel. Die Stadt wirkt wie abgeschnitten vom Rest der Welt. Auf der
London Bridge begegnet die Erzählerin einem jungen Mann mit einem Feuermal im
Gesicht. Jonathan verkauft die Obdachlosenzeitung. Er ist von der Südküste
hierher geflüchtet, wo das Meer sich nimmt, was ihm nicht zusteht. Die beiden
sind einander eigenartig vertraut. Sie teilen Verletzungen – den frühen Verlust
des Vaters – und Hoffnungen, und allmählich, mit jedem Treffen ein wenig mehr,
gehen die vergessenen Geheimnisse des einen in den anderen über. Dann aber
verschwindet Jonathan ebenso plötzlich, wie sie einander begegnet sind, die
Flugzeuge kehren zurück. Als der Frühling sich seinem Ende nähert, macht die
Erzählerin sich auf die Suche, nach Jonathan, nach sich selbst.
Ein zutiefst bewegender Roman über die eruptive Kraft der Erinnerung, die
Suche nach der verlorenen Zeit. Über das Wiederfinden der eigenen Geschichte in
einem anderen Menschen.
Nichts
davon stimmt, aber alles ist wahr von Larissa
Boehning ist bei Galiani erschienen, Panischer
Frühling von Gertrud Leutenegger ist bei Suhrkamp erschienen.
(JK 05/14)
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