Abschied von wichtigen literarischen Stimmen: Michel Tournier (*16.12.1924 †18.01.2016)

Am 18. Januar 2016 ist Michel Tournier, der „Klassiker und Randalierer“ (Tournier über Tournier) 91-jährig in Choisel gestorben.

Kaum ein französischer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts hat sich Deutschland so verbunden gezeigt wie Michel Tournier. Als Kind zweier französischer Germanisten am 19. Dezember 1924 in Paris geboren, studierte Michel Tournier von 1946 bis 1950 Philosophie und Jura in Paris und Tübingen, war in den fünfziger Jahren längere Zeit beim französischen Sender Europe 1 tätig und später Lektor bei den Verlagshäusern Plon und Gallimard. Darüber hinaus war er als Übersetzer aktiv und Mitglied der Académie française. Erst relativ spät begann seine Karriere als Schriftsteller, mit 42 Jahren im Jahr 1967, und sein erster Roman Vendredi ou les limbes du Pacifique (dt. Freitag oder im Schosse des Pazifik) sollte auch sein berühmtester werden. Tournier nimmt darin eine ironische Umdeutung des Robinson-Stoffes vor. Anders als etwa in Defoes Vorlage findet Robinson dort in Freitag keinen devoten Diener, sondern einen verspielten Rebellen, der die zivilisatorischen Bemühungen Robinsons konterkariert und damit schließlich auch Erfolg hat. Denn Robinson wandelt sich, nachdem Freitag alle Pulvervorräte zur Explosion gebracht hat, zu einem naturnahen, spirituellen Menschen, der sich auf dem Eiland in kosmischer Harmonie wähnt. In denkbar verquerer Dialektik erliegt wiederum Freitag am Ende, als ein Schiff auf der Insel anlegt, den Verlockungen der Zivilisation. Bereits hier bemerkt man Tourniers Willen zu einer Dekonstruktion des Mythos. Er verwendet ihn, aber erzählt ihn neu, erweitert oder verkürzt ihn, unterfüttert ihn philosophisch (Tournier bezeichnete sich in einem Interview selbst einmal als einen „Schmuggler der Philosophie“). 

Le Roi des Aulnes (dt. Der Erlkönig), für den Tournier 1970 die höchste französische Auszeichnung, den Prix Goncourt, erhielt, musste wegen seiner eigenwilligen Stilisierung und vermeintlich obskuren Nähe zu nazistischen Sichtweisen einiges an internationaler Kritik einstecken. Tournier selbst hat sich von derartigen Verdächtigungen allerdings stets distanziert. Erzählt wird die Geschichte des Automechanikers Abel Tiffauge anhand eines Berichts und eines Tagebuches, das im Januar 1938 ansetzt. Ein zeitlicher, in irgendeiner Weise politisch relevanter Hintergrund ist nicht erkennbar. Nach Ausbruch des Krieges gerät Tiffauge in deutsche Gefangenschaft und gelangt nach Ostpreußen, doch empfindet er, denkwürdig genug, das Lager keineswegs als Schmach. Vielmehr arrangiert er sich mit den Wachtposten und kann nächtens sogar frei durchs deutsche Moor streifen. Tiffauge fühlt sich sehr wagnerianisch mit germanischen Mythen und Legenden verbunden, so wie er Deutschland überhaupt als „gelobtes Land“ begreift. Mit dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs entsteht hier ein groteskes Deutschlandbild, eins, das zwar erkennbar mit den nationalen Klischees spielt, sie aber nolens volens eher bestätigt als aufhebt. Dies wurde auch vonseiten der deutschen Literaturkritik bemerkt: Jean Améry sprach unumwunden von einer „Mythisierung des Dritten Reiches“. Anderseits hielt sich Tournier, im Gegensatz zu Céline oder auch Genet, mit einseitigen politischen Statements oder direkt plumpen Sympathien für nazistische Legendenbildungen zurück, mögen einige seiner Darstellungen Görings und Hitlers (beide werden in dem Buch als „ogres“, als Menschenfresser, eher märchenhaft verniedlicht) dem Leser heute auch vermessen oder sogar inakzeptabel vorkommen. Der Roman hatte in Deutschland beachtlichen Erfolg und wurde 1996 von Volker Schlöndorff unter dem Titel Der Unhold verfilmt. 

(Thomas Laux)

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