In seinem Roman Marias
Testament, der als Taschenbuch bei dtv erschienen ist, bringt uns der
irische Schriftsteller Colm Tóibín die Geschichte Marias nah, wie sie die Bibel
nicht erzählt.
Lange Jahre nachdem
Christus am Kreuz gestorben ist, erhält Maria Besuch von seinen Jüngern, die
sie bitten über ihren Sohn zu erzählen, um es für die Nachwelt aufzuzeichnen. Doch
die Mutter Jesu will von der Heiligkeit ihres Sohnes noch immer nichts wissen.
Seinen Wundern gegenüber ist sie skeptisch, und den Schmerz über seinen Verlust
hat sie nie verwunden. Ihre Version von der Passion Christi ist geprägt von
ihrer persönlichen Trauer, ihrer fehlenden Frömmigkeit und ihrem Eigensinn. Es
ist die Geschichte einer Frau, die nicht verstehen will, weshalb ihr Sohn sich
von ihr abwandte, und die auch nicht an den christlichen Gott glaubt. Durch
ihre Augen eröffnet Colm Tóibín einen völlig neuen Blick auf das Christentum
und erschafft ein ungeahnt menschliches Porträt der Ikone Maria.
Colm
Tóibíns Mütter verhalten sich nicht immer so, wie man es erwartet. Sie sind oft
unberechenbar, gelegentlich geradezu lästig, anfällig für Ausbrüche an
Leidenschaft oder Wut oder – noch schlimmer – unnatürliche Gleichgültigkeit.
Selten sind sie Figuren unkomplizierter Gelassenheit oder pflegender Hingabe,
doch geben sie oftmals hervorragenden Stoff für Geschichten. Maria erzählt dem Leser
ihre Seite der Geschichte: die Ambivalenz, das an Abneigung grenzende Gefühl
der Anhänger ihres Sohnes gegenüber, die sie als Außenseiter, Narren, Heuchler,
Unzufriedene und Stotterer bezeichnet. Welche Fremdheit Sie empfindet, als Jesus
seine bisherige Identität zu etwas anderem abstreift, an seiner Stimme alles
falsch findet und seinen Ton als gestelzt. Die Entfremdung erreicht seinen
Höhepunkt, als Jesus seine Mutter bei einer Hochzeit nicht zu erkennen scheint,
wie sie ohne Groll oder Selbstmitleid erkennt, dass er erfüllt ist von
gedankenloser Energie. Tóibín erzählt eine Handvoll solch vertrauter
Geschichten, die jedes Mal auf subtile Weise immer verstörender wirken. Die
Hochzeit beispielsweise erhält durch die Üppigkeit der Geschenke und die
Kleidung der Braut einen witzigen Seitenhieb auf zeitgenössische Hochzeiten und
fordert geradezu das Nachdenken über Maria und den Kult ihrer Jungfräulichkeit
heraus. Den Höhepunkt erfährt das Buch mit der Kreuzigung, als Maria festhält,
dass der Schmerz seiner war und nicht der ihre und dass wenigstens einmal die
Wahrheit in der Welt gesprochen werden sollte. Diese Wahrheit, wie Tóibín sie
sich in diesem überaus seltsamen, tief nachdenklichen Buch vorstellt, ist bei
weitem subversiver als es zunächst scheinen mag. Sie steht im Widerspruch zur
Kirchenlehre Marias und vielen der Überzeugungen der römisch-katholischen
Kirche, und nicht zuletzt gegen die von der Kirche propagierte Macht Marias in
unserem Namen zu intervenieren. Die Maria, die in ihrem abgedunkelten Haus in
Ephesus sitzt, will nicht freiwillig die Gebete dieser Welt auf sich nehmen.
Sie sagt am Ende des Buches, dass sich Träume auf die Nachtzeit beschränken und
am Tag gelebt wird, und man sollte in voller Anerkennung dieses Unterschieds
leben.
Colm Toíbín, 1955 in
Irland geboren, veröffentlichte mehrere Sachbücher. Sein erster Roman Der
Süden (1994) wurde von der Kritik enthusiastisch gefeiert. Toíbíns Bücher
wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Er gilt als einer der
interessantesten englischsprachigen Schriftsteller der mittleren Generation.
Marias Testament von Colm Tóibín ist bei dtv erschienen.
(JK 03/16)
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