Frankreich – Ehrengast 2017 der
Frankfurter Buchmesse
Spricht
man in Frankreich von der Liebe, kommt man früher oder später auf Jean Racine,
den größten Tragödienautor Frankreichs – vor allem wenn man von jener Liebe
spricht, der kein glückliches Ende beschert ist. Und doch ist Racine mehr als
all die geflügelten Worte, zu denen viele seiner Verse geworden sind. Zwischen
all dem klassisch weißen Marmor lauern die Schatten. „Eine Trennung ist keine
Nichtigkeit“, schreibt Racine im Vorwort zu seiner Tragödie Bérénice –
und Nathalie Azoulai nimmt ihn beim Wort. Ihre Bérénice, eine Frau des 21.
Jahrhunderts, wird verlassen; Titus, ihr Liebhaber, kehrt zurück zu Frau und
Familie. Und tatsächlich – die Worte Racines sind ihr ein Trost; sie erkennt
sich in ihnen wieder; sie bedient sich wie in einem „Selbstbedienungsladen für
Liebeskranke“. Doch wie konnte ein Mann des 17. Jahrhunderts so treffend über
die Liebe und das Leid und den Schmerz nach deren Ende schreiben – zumal aus
der Perspektive einer Frau?
Mit
Bérénice taucht Azoulai ein in das Leben Jean Racines, zeigt dessen Aufstieg
vom Waisenkind im strengen Kloster Port-Royal zum Günstling Ludwigs XIV., die
Zerrissenheit zwischen der jansenistischen Askese und dem Prunk am Hof des
Sonnenkönigs. Und immer sind ihm Sprache und Literatur Anker und Kompass: die
verbotenen und im Verborgenen gelesenen Texte Vergils und Heliodors als Kind
und die Suche nach neuen Ausdrucksformen der Liebe und Leidenschaft als immer
erfolgreicherer Dichter.
Nathalie
Azoulai spiegelt ihre Bérénice der Gegenwart in der Lebensgeschichte ihres
Schöpfers und dessen éducation sentimentale im Schmerz seiner Figur, Bérénice.
Und so wird dieser Text zu weit mehr als einer Biographie oder einem
historischen Roman: Nathalie Azoulai zeigt die Universalität der Leidenschaft
und des Kummers über die Jahrhunderte hinweg und beschreibt so eine Topographie
der Sprache der Liebe.
Nathalie
Azoulai, geboren 1966 in Nanterre bei Paris, studierte Literaturwissenschaften
und arbeitete nach ihrem Abschluss als Lehrerin, bevor sie Lektorin wurde. 2002
erschien ihr erster Roman. Heute lebt und arbeitet sie als Schriftstellerin und
Drehbuchautorin in Paris. An Liebe stirbt man nicht ist Nathalie
Azoulais sechster Roman und ihr erster in deutscher Übersetzung. Sie war damit
2015 unter den drei Finalisten des Prix Goncourt und wurde dafür mit dem Prix
Médicis ausgezeichnet.
An Liebe stirbt man nicht von Nathalie Azoulai ist bei Secession erschienen.
(JK 08/17)
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