Anita Nair: Gewaltkette (Argument)

Inspector Gowda, Mordermittler in Indiens drittgrößter Stadt Bangalore, soll die vermisste Tochter seiner Haushaltshilfe suchen. Zugleich verlangt ein komplizierter Mordfall seine ganze Aufmerksamkeit: In einer gut bewachten Gated Community wurde ein reicher Anwalt erschlagen. Beide Aufgaben sind ihm wichtig, für beide braucht er reichlich Vitamin B. Inspector Gowda hadert täglich mit seiner Ohnmacht im Großen und seiner Inkonsequenz im Kleinen – wie dem Umstand, dass er seine Ehefrau betrügt, seiner Geliebten nicht gerecht wird, seinem Sohn entfremdet ist. Aber wenn es ums Ermitteln geht, macht Borei Gowda keinerlei Kompromisse…

Für Gewaltkette recherchierte Anita Nair zwei Jahre lang und arbeitete bei der Sozialarbeits-NGO BOSCO mit, was zu den härtesten Erfahrungen ihres Lebens beitrug. Nair packt mit ausgefuchsten Genre-Mitteln und starker, eindringlicher Prosa ein schreckliches Thema an – Kinder als Ware. Trotz tiefster Empathie bleibt ihre Schilderung konkreter Gewalt stets zurückhaltend, frei von Voyeurismus und Pathos. Das ist große Literatur, sinnlich und düster, ganz dicht am realen Leben, voll erzählerischer Wucht: Verwoben mit der Ermittlung rücken faszinierende Handlungsstränge ins Bild, Facetten einer hochmodernen, aber kolonial tradierten, auf ethnischen und Kastenvorurteilen aufgebauten Gesellschaft mit krassen Hierarchien, zutiefst patriarchalen Normen und blühendem Raubtierkapitalismus: das urbane Indien heute.

In ihrem Krimi beschreibt Anita Nair das Spannungsverhältnis, in dem sich die indische Gesellschaft befindet. Traditionelle, archaische Verhaltensweisen inmitten chaotisch scheinender Strukturen sind hoffnungslos überfordert mit der vermeintlich planlos wachsenden und wuchernden Industrie-und Dienstleistungsgesellschaft in den Städten Indiens, wie hier in Bangalore. Anita Nair entwickelt ihre Story behutsam und mit viel Fingerspitzengefühl. Anstatt drastische Szenen zu beschreiben, arbeitet sie geschickt mit Andeutungen und lässt den Leser seine Vorstellungskraft entfalten. Es gibt bei ihr die Verlierer und die Profiteure. Sie zeichnet dabei ein stimmiges Gesamtbild und eine Momentaufnahme der indischen Gesellschaft, bedrückend und eindringlich.

Anita Nair, geboren in Kerala, studierte englische Literatur und veröffentlichte 1997 einen ersten Erzählungsband, 1998 ihren Debütroman The Better Man. Es folgten weitere Romane sowie Essays, Gedichte und Kinderbücher. Dann entdeckte sie die Kriminalliteratur als Mittel, um mit kritischem Blick über die Gesellschaft zu schreiben. „Was mich am Genre so anzieht, ist sein Potenzial, das Soziale zu zeigen und zu kommentieren.“ Zu diesem Zweck erfand sie den eigenwilligen Inspector Borei Gowda, der sich behördlicher Korruption entgegenstemmt. Anita Nair lebt mit ihrer Familie in Bangalore.

Gewaltkette von Anita Nair ist bei Argument in der Ariadne-Reihe als Taschenbuch erschienen. 
(JK 12/17)

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