
Der Roman Mister Pip des neuseeländischen Autors Lloyd Jones, der bei Rowohlt erschienen ist, ist ein modernes Märchen vom Wunder des Lesens und der Macht der Phantasie. Mit seinem grandiosen Roman erinnert Jones an den fürchterlichen Bürgerkrieg, der – von der Weltöffentlichkeit praktisch unbemerkt – in den 1990-er Jahren die Insel Bougainville im Südpazifik verwüstete und ein Zehntel der Bevölkerung in den Tod riss. Geographisch gehört Bougainville zum Salomonen-Archipel, politisch bildet sie mit der Nachbarinsel Buka die einzige autonome Region von Papua-Neuguinea. Es waren die Jahre, als die Konflikte um Panguna, einst die weltgrößte im Tagebau betriebene Kupfermine, in einem brutalen Bürgerkrieg eskalierte.
Bougainville – ein paradiesisches Idyll im Südpazifik. Bis die Soldaten landen. Als die Soldaten landen, haben die meisten Weißen Matildas tropische Insel schon verlassen. Nur einer bleibt. Mr. Watts trägt eine rote Karnevalsnase und kutschiert seine dicke eingeborene Frau in einer Karre umher. Die Kinder nennen ihn Pop Eye, aber außer ihm ist niemand da, der ihnen Unterricht geben könnte. Während Geschützfeuer den nächtlichen Dschungel erleuchtet, Hubschrauber die tropische Stille durchbrechen, entführt der exzentrische Mr. Watts seine Schüler in eine vielleicht bessere, fremde Welt: die Welt des Charles Dickens. Mr. Watts beginnt vorzulesen: „Große Erwartungen“ von seinem „Freund“ Charles Dickens. Für die kleine Matilda wird der Waisenjunge Pip so real wie die eigene Mutter, und die größte Freundschaft ihres Lebens fängt an. Nur: Was soll sie sagen, wenn die Soldaten fordern, man solle ihnen diesen gefährlichen Pip ausliefern, da er doch nur ein Rebell sein könne? Selten sind das Schöne und das Schreckliche, das Menschen einander antun können, so umstandslos, so atmosphärisch und weise erzählt worden.
Lloyd Jones, geboren 1955 in Lower Hutt, Neuseeland, hat zahlreiche Romane und Erzählungen veröffentlicht und gehört zu den namhaften, vielfach preisgekrönten Autoren seiner Heimat. Für Mister Pip erhielt Lloyd Jones, Neuseelands international bekanntester Autor, nicht nur den Commonwealth Writers’ Prize, er schaffte auch den Sprung auf die Shortlist für den Booker Prize 2007.
(JK 05/07/08)
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