Abschied von wichtigen literarischen Stimmen: Literaturnobelpreisträger Günter Grass (*16.10.1927 †13.04.2015)

Am Montag, den 13. April 2015, ist Günter Grass in Lübeck im Alter von 87 Jahren gestorben. Mit seinem Roman Die Blechtrommel hatte Günter Grass 1959 Furore gemacht. Vierzig Jahre später wurde er dafür mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.

In seinem schönsten Buch Treffen in Telgte porträtierte sich Günter Grass selbst als Meisterschreiber, als einer von vielen. In der fiktiven Versammlung von 1647 firmiert er unter den berühmten Barockdichtern, die als Spiegelfiguren der in der alten Bundesrepublik meinungs- und tonangebenden Dichtergruppe 47 auftreten, als Grimmelshausen. In dreifacher Weise hat der damals 52-Jährige seine Interessensphäre abgesteckt: in der historischen Kontinuität des „zerrissenen Vaterlands“, in der Zuordnung zur belehrenden Tradition des Barock und im Bild des Mahners und Erneuerers, das in den gebildeten Repräsentanten des nationalsprachlichen Aufbruchs eine frühe Ausprägung fand. Politische Zeitgenossenschaft, literarische Allegorese und nicht zuletzt der Mangel an Bescheidenheit, aus dem er sich eine repräsentative Funktion zueignete, kennzeichneten den Mann, der Heinrich Böll als deutscher Literaturnobelpreisträger nachfolgte.

Wie Thomas Mann für die Buddenbrooks, so hat auch Grass, trotz lobender Erwähnung des Lebenswerks, die höchste literarische Ehrung vornehmlich für seinen Erstling bekommen. Die Sensation der Blechtrommel lag in ihrer literarischen Sprengkraft, die nicht nur einen literaturgeschichtlichen Umbruch, sondern auch eine kulturelle Neubewertung deutschen Selbstverständnisses anregte: vom Gedankensystem zum irdischen Chaos, vom Idealismus zum akausalen Geschichtsbild, vom Erhabenen zum Kreatürlichen, kurz, vom gestirnten Himmel zum Kartoffelacker. Der Roman des Bildhauers und Lyrikers war Meilenstein und Scheideweg zugleich. Geschrieben in Paris, dem absurden Denken des Sisyphos-Autors und Antipoden des engagierten Sartre, Albert Camus, verpflichtet, repräsentiert die tolldreiste Geschichte vom Zwerg Oskar die schöpferisch-anarchische Seite des „poeta politicus“ – das ästhetische Potenzial, das später zusehends vom Gewicht der Gesinnung erdrückt wurde. Beide Aspekte gründen in Grass' Herkunft. An seinen „pikaresken“ Schreibstil knüpften unter anderem solche Autoren wie John Irving und Salman Rushdie an. Letzterer setzte sich insbesondere auch mit Grass’ Verarbeitung des Heimatverlustes auseinander, was sich zum Beispiel in Rushdies Roman Mitternachtskinder zeigt.

Günter Grass wurde am 16. Oktober 1927 in Danzig geboren als Sohn eines protestantischen Lebensmittelhändlers und einer Katholikin kaschubischer Abstammung. Er ist Vater sechs leiblicher und zwei angeheirateter Kinder. Nach seinem Studium der Grafik und Bildhauerei an der Hochschule für Bildende Künste in Berlin lebte er von 1956 bis 1959 in Paris. 1960 zog er erneut nach Berlin-Friedenau, wo er bis 1972 wohnte. Von 1972 bis 1987 lebte er in Wewelsfleth in Schleswig-Holstein. Als Mitgründer des Verbandes deutscher Schriftsteller (VS) gehörte Grass zu den Kritikern der Verbandspolitik, die seiner Meinung nach gegen osteuropäische Diktaturen oft allzu duldsam war. Seit 1968 war Grass Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland, dessen Ehrenpräsident er seit 2009 war. Eine Zusammenarbeit mit dem Jazzmusiker Günter Sommer ab 1985 brachte mehrere Tonträger hervor, auf denen der Schriftsteller zu Perkussionsmusik von Sommer aus seinen Werken liest. Günter Grass war offizieller Unterstützer der Aktion 1:1 des LSVD, die sich für gleiche Rechte und Pflichten bei einer Lebenspartnerschaft einsetzt. 1997 gründete Grass die Otto-Pankok-Stiftung zu Ehren seines ehemaligen Lehrers und als Engagement zu Gunsten der Sinti und Roma. Grass war 1996 Mitunterzeichner der Frankfurter Erklärung zur Rechtschreibreform. Auch in neueren Werken verwendete Grass weiterhin die traditionelle Rechtschreibung. 1999 erhielt Günter Grass im Alter von 72 Jahren den Nobelpreis für Literatur für sein Lebenswerk. 2005 gründete er den Autorenzirkel Lübeck 05. Grass engagierte sich außerdem gegen Atomkraft und lebte bis zu seinem Tod in Behlendorf im Kreis Herzogtum Lauenburg. In Lübeck befindet sich das Günter-Grass-Haus mit dem überwiegenden Teil seiner literarischen und künstlerischen Originalwerke.
(JK 04/15)

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