Vom amerikanischen Autor
David Leavitt ist bei Hoffmann und Campe sein neuer Roman Späte Einsichten erschienen.
Lissabon, 1940: Während
Europa im Krieg versinkt, kreuzen sich hier die Wege zweier Paare mit fatalen
Konsequenzen. Man wartet auf das nächste Schiff nach Amerika mit Tausenden
anderer Flüchtlinge und vertreibt sich die Zeit in Cafés und Bars bei reichlich
Absinth: „Das ist das Ende von Europa, deshalb tanzen sie, und auch Lissabon
ist das Ende von Europa. Und alles, was Europa darstellt und bedeutet, ist in
diesen Zipfel gepresst. Zu viel davon.“
Anders als seine
skeptische Frau Julia ist Pete Winters sofort fasziniert von Iris und Edward
Freleng und ihrer glamourösen, freien Lebensart. Aus Faszination wird bald
Liebe. Ohne dass er recht weiß, wie ihm geschieht, lässt sich Pete auf eine
unmögliche Affäre ein. Es ist der Anfang einer großen Liebesgeschichte. Während
Europa dem Abgrund entgegentaumelt, wandeln sich die Beziehungen dieser vier
Menschen auf dramatische Weise. Und zuletzt begreift Pete, dass man über den
Menschen, dem man am nächsten steht, oft am wenigsten weiß.
Man kann Leavitt entgegen
halten, dass er für seinen Roman das mit Flüchtlingen überflutete Lissabon als
Staffage für eine banale Liebesgeschichte auswählte, wo sich dort doch weit
dramatischere Schicksale ereigneten, die Stoff für einen Roman hergäben. Doch Leavitt
sagt uns damit gleichzeitig, dass die Geschichten des Krieges nicht nur die von
Soldaten, Widerstandskämpfern, Fronten und Offizieren sind. Es sind ebenso Geschichten
wie diese, eine zum Scheitern verurteilte Liebesaffäre, die weitergeht trotz
oder gerade wegen des die Figuren umgebenden Mahlstroms. Anders als Leavitt uns
glauben machen will, ist sein Buch jedoch kein historischer Roman, die
zeitliche Einbettung ist Staffage. David Leavitt hat einen der bereits lang
vermissten Romane geschrieben, in denen die Brisanz homosexueller Neigungen und
Beziehungen in der Gesellschaft zum Ausdruck kommt. Gerade in einer Zeit, in
der man in Europa wieder gesellschaftliche Kräfte am Werke sieht, die
positiven, zutiefst menschlichen Veränderungen der Gesellschaft gegenüber
Homosexualität zurückzudrehen, freut man sich über Autoren wie Leavitt. Späte Einsichten sollte ihn wieder als
eine der wichtigsten Stimmen des zeitgenössischen Romans etablieren. Bewegend,
hinreißend und leidenschaftlich ambitioniert, Späte Einsichten ist ein überaus wertvoller Roman.
David
Leavitt, 1961 geboren in Pittsburgh, Pennsylvania, wurde 1984 durch seinen für
den PEN/Faulkner Award nominierten Erzählband Familientanz international bekannt. Es folgten unter anderem die
Romane Die verlorene Sprache der Kräne
(1986), Alles, was uns fehlt (1989), Nachtmusik mit einer Fremden (1998) und The Indian Clerk (2007), der ebenfalls
für den PEN/Faulkner Award nominiert war. Leavitt lebt in Gainsville, Florida,
unterrichtet Englische Literatur an der University of Florida und ist
Herausgeber der Literaturzeitschrift Subtropics.
Späte Einsichten von David Leavitt ist bei Hoffmann und Campe erschienen.
(JK 12/15)
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